Hundert Jahre moderne Mathematik

Am 13. Februar 1908 publizierte der in Berlin geborene Mathematiker Ernst Zermelo ein Axiomensystem, das die Mengenlehre und damit die gesamte Rechenkunst auf eine feste Basis stellte.

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Von
  • Ralf BĂĽlow

Ernst Zermelo (1871-1953)

Heute vor genau hundert Jahren, im zweiten Heft von Band 65, brachten die Mathematischen Annalen die "Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre" von Ernst Zermelo. Im Mittelpunkt seines 21 Seiten langen Artikels standen sieben grundlegende Sätze, die eine widerspruchsfreie Formulierung der von Georg Cantor erfundenen Theorie lieferten, die in höchster Allgemeinheit die Zusammenfassungen von realen und gedachten Objekten beschreibt.

Zermelo war in der akademischen Welt kein Unbekannter. 1871 in Berlin geboren, hatte er dort in Mathematik promoviert und danach als Assistent beim Physiker Max Planck gearbeitet. 1897 ging er an die Universität Göttingen, die sich neben der Hauptstadt-Uni als ein Zentrum mathematischer Forschung etablierte. Seit 1899 lehrte er als Privatdozent, durfte aber nach einem Aufsehen erregenden Artikel über ein Spezialthema der Mengenlehre ab 1905 den Professorentitel führen.

Zu jener Zeit machte die Mathematik gerade ihre Grundlagenkrise durch. Seit den 1890er-Jahren wussten die Experten, dass Cantors Schöpfung logisch unsauber war; doch glaubte man, dass die vorgefundenen Kontradiktionen die Theorie insgesamt nicht gefährdeten. 1903 platzte die Bombe, als die Russelsche Antinomie bekannt wurde. Der englische Philosoph hatte entdeckt, dass schon im Begriff der Menge der Wurm steckte: Er erlaubte eine Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten. Mit anderen Worten, jene Obermenge enthält sich, wenn sie sich nicht enthält, und umgekehrt.

Die sieben Axiome von Professor Zermelo beseitigten solche Widersprüche. Nach den Definitionen der Mengengleichheit und der Elementarmengen mit null, einem und zwei Elementen kam das Axiom der Aussonderung, das neue Mengen als Teilmengen von bereits existierenden einführt und somit die Russelsche Antinomie vermeidet. Es folgten die Regeln für die Potenzmenge und die Mengenvereinigung, das Auswahlaxiom – dazu gleich mehr – und schließlich eines für die Bildung unendlich verschachtelter Mengen a, {a}, {{a}},{{{a}}} usw.

In der Folgezeit wurde das System in einigen Punkten überarbeitet, vor allem durch den deutsch-israelischen Mathematiker Adolf Fraenkel, so dass man heute von der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre oder kurz ZF spricht. Ihr fehlt jedoch das Auswahlaxiom. Fügt man dieses hinzu, erhält man die ZFC-Axiomatik (nach dem englischen "Axiom of Choice"), die logische Basis der gesamten wissenschaftlichen Mathematik.

Zwei Jahre nach seinem großen Wurf wurde Zermelo an die Universität Zürich berufen, wo er aber aus Gesundheitsgründen – er erkrankte immer wieder an Tuberkulose – nur sechs Jahre lehrte. Nach dem 1. Weltkrieg ließ er sich in Freiburg nieder und erhielt 1926 eine Honorarprofessur. 1935 zog er sich ins Privatleben zurück, da ihm der Entzug der Lehrerlaubnis drohte: Er hatte den "Deutschen Gruß" nicht oder nur nachlässig gezeigt. Ernst Zermelo starb 1953, von Heinz-Dieter Ebbinghaus und Volker Peckhaus erschien letztes Jahr eine schöne Biographie.

Banach-Tarski-Paradox: Aus Eins mach Eins plus Eins

Was ist nun aber das mysteriöse Auswahlaxiom? Es ist ein Prinzip, das wir zu jeder Tages- und Nachtzeit und in allen Lebensbereichen anwenden, nämlich immer dann, wenn wir aus Gruppen von Objekten jeweils eines herauspicken und aus den so gewählten Gegenständen eine neue Gruppe bilden. Problematisch wird es, wenn wir unendlich viele Mengen mit unendlich vielen Elementen vor uns haben. Hier fällt die Prozedur aus praktischen Gründen aus, doch das Axiom sagt uns wenigstens, dass eine solche Aussonderungsmenge existiert.

Das Auswahlaxiom wurde ab 1900 von Ernst Zermelo und anderen Mathematikern erforscht und führte zu einer Fülle von Resultaten, die nicht nur Laien erstaunen. So kann man mit C und etwas Addition und Subtraktion die sogenannte Vitali-Menge definieren und mit ihrer Hilfe Folgendes zeigen: Die kleinste Strecke lässt sich in unendlich viele Punktmengen zerlegen, die separat auf die nach beiden Seiten offene Gerade "hinausgeschoben" werden können, auf der die Strecke liegt, und die in ihrer Gesamtheit jene Gerade lückenlos ausfüllen.

Das verblüffendste Ergebnis der ZFC-Mengenlehre und wahrscheinlich der ganzen Mathematik ist aber das 1924 publizierte Banach-Tarski-Paradox. Es besagt in kurzen Worten, dass eine Vollkugel in sechs Punktmengen – die also keine durchgehenden Volumina bilden müssen – aufgeteilt werden kann, aus denen sich anschließend zwei Vollkugeln derselben Größe wie die Ausgangskugel zusammensetzen lassen. Eins und Eins ergibt also manchmal Eins.

Eine Erkenntnis wie diese ist schwer zu schlucken aber dennoch korrekt. Sie widerspricht allerdings der possierlichen Idee von der Mathematik als "Sprache der Natur" und zeigt die Wissenschaft, wie sie wirklich ist – abstrakt, logisch und über allen Werbekampagnen stehend. Dafür und natürlich für die 100 Jahre seines Axiomensystems sollten wir Ernst Zermelo dankbar sein. (Ralf Bülow) / (pmz)