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Was war. Was wird.

Ein Mann ohne Eigenschaften fällt ins IT-Sommerloch und findet das reformierte Deutschland: Manchen Augenblick mag Hal Faber tatsächlich zum Verweilen auffordern.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Deutschland ist schön, seine Landschaften typisch, pflegte eine Brauerei in seltsamen Duktus zu fabulieren. Dem ließe sich nun hinzufügen: Deutschland ist schön, seine Konzerne notorisch, die Gewerkschaften lautstark und die Belegschaften willig. Dumm nur, dass nicht alle mitreden dürfen. So wird bei DaimlerChrysler das Ende des Reformstaus gefeiert -- ein Ende, das geschickterweise die Hauptklientel der IG Metall, die Stammbelegschaften, zufrieden stellt, denjenigen aber, die den eifrig beim Daimler schaffenden Schwaben das Essen in der Kantine besorgen und das Klo putzen, noch eine massive Reduzierung ihrer ohnehin geringen Bezüge abverlangt. Was so ein euphemistisch Dienstleister Genannter verdient, dafür klappt ein Daimler-Malocher morgens nicht einmal die Augen auf. Irgendjemand muss den proklamierten Sieg der Vernunft halt bezahlen, da nimmt man wie beim Arbeitslosengeld II am besten die, die bislang keine wirksame Interessenvertretung haben. Ja, ja: Deutschland ist typisch, seine Konzerne reformistisch, seine Gewerkschaften korporativistisch. Willkommen in der reformierten Volksgemeinschaft Deutschland.

*** Bleiben wir noch ein bisschen in Deutschland: Muss man "Halbjüdin" schreiben? Das beschäftigte die Leser dieser kleinen Wochenschau zur vorigen Ausgabe. Distanzierende Gänsefüßchen vor Wörtern aus dem Wörterbuch der Unmenschen bei dem Hinweis, dass die Karriere einer Schauspielerin im Dritten Reich gestoppt wurde, sie hatte ich nicht erwartet. "Soviel und welche Sprache einer spricht, soviel und solche Sache, Welt oder Natur ist ihm erschlossen", heißt es im Vorwort des nämlichen Wörterbuches. Ohne Distanz, aber in den Gänsefüßchen der direkten Rede: "Inge war Halbjüdin, und wir wollten niemand zu nahe treten."

*** Und nun -- bleiben wir jetzt einmal im Gehäuse unserer Sprache. Was, bitte, ist eine Globalisierung des Antisemitismus, vor der die Böll-Stiftung und das American Jewish Committee in dieser Woche mit einem Policy Paper warnten? Ein überall auf der Welt anzutreffender ewiggleicher Antisemitismus oder eine grünjüdische Hirnerweichung, die darin wurzelt, dass wir alle ja sooo gegen die böse Globalisierung sind. Ich komme zu dem alltäglichen deutschen Antisemitismus, zu "Judas", genannt Jens Voigt. In übelster Manier kommentierte bei der ARD der gewisse Hagen Boßdorf eine Etappe der Tour de France mit wilden Ullrichschen Ausreißversuchen und hektischen von Voigt geführten Verfolgungsjagden. Ja, der gewisse Boßdorf kommentierte, der für Jan Ullrich das Buch "Ganz oder gar nicht" schrieb. Als notleidender ARD-Sportchef häufig als bezahlter Moderator beim Team Telekom und nun beim T-Mobile Team in Brot und Arbeit (die Telekom beeilte sich zu versichern: auf Einzelhonorarbasis, als ob es dadurch besser würde und die journalistische Glaubwürdigkeit des Herrn wiederherstellte), zitterte Herr Boßdorf um die Buchauflage. Am nächsten Tag war "Judas Voigt" auf die Straßen gepinselt. Natürlich ist dieser Reflex kein "Antisemitismus", natürlich hat der jüdische Ron Sommer das Buch von T-Mann Boßdorf und Ullrich vorgestellt. So ist das in Deutschland.

*** Verweile doch, du bist so schön? Nun ja: Auch im Augeblick darf es noch ein bisschen Sprachkritik sein. Die Formulare für das Arbeitslosengeld II sind draußen, eine datenschutzrechtlich einwandfreie Verdienstbescheinigung wird hastig über das Internet zum Download nachgeliefert. Ein wahrlich symbolischen Akt der Entsozialisierung der sozialen Marktwirtschaft haben die Datenschützer damit verhindert: Wenn die Sippe verarmt, soll dies auch der Arbeitgeber wissen. Das Vermögen will bei ALG II genau bestimmt und berechnet werden. So heißt es klipp und verwirrend: "Unter Vermögen versteht man die Gesamtheit der in Geld messbaren Güter einer Person, bewertet zum Zeitpunkt der Antragsstellung, soweit das Vermögen nicht später erworben wurde." Wo scharf gemessen wird, da fallen Späne: Pro Lebensjahr darf ein ALG II-Anstragssteller nicht mehr als 200 Euro auf der berühmten hohen Kante angespart haben, lautet die Regel. Mehr Gerechtigkeit wagen sieht bei Schröder II halt so aus. Deutschland ist schön... und so weiter ad infinitum.

*** Und wo wir schon wieder beim schönen Deutschland gelandet sind, verweilen wir doch noch kurz: Ja, Politik, das ist die hohe Schule der Dialektik, zum Beispiel mit den händeringend gesuchten Indern und den anderen, die in "Außenstellen" gelagert werden. Politik ist, wenn ein Fischerminister bei vollem Bewusstsein behauptet, dass Terroristen bei uns leichter Asyl bekommen, als dass ein ausländischer Softwareexperte ins Land gelassen wird. Mehr Gerechtigkeit für Inder!

*** Bleiben wir hier aber lieber nicht: Vielleicht sollte man die Formel "mehr Gerechtigkeit" ein für allemal einmotten und mit dem Microsoft-Gründer einfach nur von Gerechtigkeit reden. Denn erst dann, wenn Gerechtigkeit ohne Bezug geliefert wird, kann man Sätze wie diesen gut finden: "Die Bill & Melinda Gates Foundation arbeitet daran, in vier Bereichen für Gerechtigkeit zu sorgen: weltweite Gesundheit, Erziehung, öffentliche Bibliotheken, und an der Unterstützung gefährdeter Familien in den US-Bundesstaaten Washington und Oregon." Ein Deklamierer sei gleich nachgeschickt: Die Ziele der Stiftung sind ehrenwert und es ist gut, wenn Gates' Geld aus der speziellen Ausschüttung so verwendet wird. Einen schönen, planschenden Sommerspass wünsche ich darum neidlos, wenn Bill Gates baden geht.

*** Übrigens: Dass Bill Gates und seine Firma in einem übertragenen Sinn baden gehen, das glauben nur diejenigen, die die gerichtlich begründete Wirksamkeit der GPL als "Sieg der Vernunft" feiern. Das ist mindestens ebenso überzogen wie die Verwunderung ob der Tatsache, dass Open-Source-Firmen Geld kassieren wollen. Aufmerksam wird bei Microsoft registriert, wie geschickt Wissenschaftler an quelloffene Software gewöhnt werden. Kurzum: Was mit Eclipse möglich ist, das kann Microsoft mit Visual Studio auch.

*** Deutschland, bleicher Bauchnabel: Wie wäre es mit einem Blick nach Österreich? Dort gab es heute vor 70 Jahren den Juliputsch der Haider & Co, denen der österreichische Kanzler Dollfuß zum Opfer fiel. Nach all den Feiern zum ehrenvollen Widerstand der Deutschen sollte der Blick auf die Verbrechen der Nationalsozialisten umso genauer sein.

Was wird.

Das größte Flickerl-Rollout der Geschichte naht. Täglich steigt die Spannung um das Service Pack 2 für Windows XP. Erste Upgrade-Erfahrungen in den USA fallen gemischt aus, der Bluescreen kommt wieder in Mode. Inmitten all der Hektik, die Microsoft dafür am kommenden Dienstag entfaltet, gerät der am gleichen Tag eröffnete Beispielsknast etwas in den Hintergrund. Das hat die schrillste Kampagne der Branche eigentlich nicht verdient.

Ansonsten droht es, immer größer: Das Sommerloch, der Albtraum jedes Journalisten. Nichts von den Augenblicken, die man um Verweilen anfleht, kein Genießen der drückenden Hitze, die nur noch eine müde Erinnerung an den Sommer des vergangenen Jahres bringt: "Ihn sättigt keine Lust, ihm genügt kein Glück,
So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten;
Den letzten, schlechten, leeren Augenblick,
Der Arme wünscht ihn festzuhalten.
Der mir so kräftig widerstand,
Die Zeit wird Herr, der Greis hier liegt im Sand.
Die Uhr steht still.
Genauo so ist es: Was also wird uns das Sommerloch in einem Sommer bringen, der kein Sommer ist, wie füllt man diese innere Leere aus, jetzt, wo Lance, Andreas, Iwan und die anderen in Paris auskurbeln, wo die packenden Expertenrunden von Detzer und Nelling vorbei sind? Wenn selbst der Aldi-PC das Sommerloch nicht zufahren kann und darum Olympia entgegengefiebert werden muss, wo mit Speeren oder Laptops geworfen wird. Das Sommerloch, in dem weise Menschen die sich rar machende Sonne gleich ganz meiden und das barometrische Maximun mit den 35 Stunden einer MP3-Datei des Mannes ohne Eigenschaften verbringen. Die Uhr steht still.

Und die Mucke? Nein, sie ist ganz und gar nicht vergessen, zumal in der Woche, in der der größte Sohn von Gronau das größte Ding aller Zeiten nach seiner Andrea Doria eröffnen durfte: Ein Museum für Rock und Pop mit *kreisch* "interaktiven Erlebniswelten" und *lechz, sabber* John Lennons Kifferdöschen, über und über dekoriert mit Gemälden von *ähem* Udo Lindenberg. Das komplette Inventar des ehemaligen Can-Studios, in Gronau als das "Wohnzimmer des Krautrocks" gepriesen, fehlt noch. So bleibt der großartige "Thief" von Jaki Liebezeit, Irmin Schmidt und Holger Czukay noch in der Kiste, während die Microsoftler Britney Spears hören, die Sicherheitsleute die Doors und die Linuxer zwischen Orb und Kraftwerk schwanken. Und weil ich trotz der netten und außerordentlich trinkfesten Kollegen vom Register eigentlich nur der Statistik traue, die ich selbst gefälscht habe, kommt hier der ultimative Vorschlag zur gepflegten Unterhaltung im Sommerloch: Am 15. August, wenn wieder einmal ein WWWW online geht, werden 35 Jahre Woodstock zu feiern sein. Love & Peace & Schlamm halt, tausendfach ausgebeutet. Microsoftler, Linuxer, Datenbank-Admins, die Aufpasser und Absicherer haben nun die Gelegenheit, ihren liebsten Song rund um das Thema Woodstock zu nominieren. Es muss nicht direkt vom Festival sein, aber mindestens irgendeinen Bezug zu Woodstock, seinen Interpreten und den Remakes oder den Folge-Woodstocks aufweisen. Zur Belohnung gibts dann einmal aufs Neue eine der ultimativen Hal-Faber-Musiklisten. Und bitte bei den Nominierungen das vom Nominierenden bevorzugte Betriebssystem nennen! Denn Open Air, das ist heute nicht nur Mucke im Freien, sondern auch WLAN und Djursland oder Linux und ein kleiner Bier-Spaziergang. (Hal Faber) / (jk)