50 Jahre Cyborgs: "It sounds like a town in Denmark"

Vor 50 Jahren wurde auf einem raumfahrtmedizinischen Symposium in Texas der kybernetische Organismus oder "Cyborg" vorgestellt.

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Von
  • Ralf BĂĽlow

Am 26. und 27. Mai 1960 fand in der luftfahrtmedizinischen Hochschule der US Air Force im texanischen San Antonio ein Symposium über "Psychophysiological Aspects of Space Flight" statt. Das Thema war hochaktuell, denn seit gut einem Jahr bereitete die Raumfahrtbehörde NASA zwei Schimpansen und sieben Menschen auf den Flug in einer Weltraumkapsel vor. Die sowjetischen Aktivitäten mit dem gleichen Ziel waren zu dieser Zeit noch unbekannt.

Zum Programm des Symposiums zählte auch der Vortrag "Drugs, Space and Cybernetics" von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline. Die beiden Autoren arbeiteten im Rockland State Hospital (heute Rockland Pychiatric Center), einer großen psychiatrischen Klinik nördlich von New York. In ihrem Text beschrieben sie diverse Methoden, um Menschen den Zuständen im Kosmos anzupassen, von der konstanten Zuführung von Pharmazeutika bis zum Anschluss an technische Systeme, etwa als Lungenersatz. Alles sollte automatisch und regelkreisgelenkt funktionieren, wie aus der damaligen Modewissenschaft Kybernetik bekannt.

Eine solche Anpassung führt zum kybernetischen Organismus oder "Cyborg", von dem Clynes und Kline gleich ein Beispiel brachten, eine Laborratte, die eine Infusionspumpe mit sich trägt. Noch bevor der Vortrag der beiden mit abgeändertem Titel in Druck (PDF-Datei) erschien, publizierte die Illustrierte LIFE den neuen Menschen. Er verbreitete sich in Natur- und Geisteswissenschaften einschließlich Feminismus (PDF-Datei) und Transhumanismus. Dabei kehrte der Weltraumheld wieder zur Erde zurück, und heute wird jeder chirurgisch verbesserte Mitbürger als Cyborg geführt.

Fantasien von Mischwesen aus Mensch und Maschine gibt es natürlich schon bei Jean Paul und Edgar Allen Poe; einen Cyborg-Vorläufer entwarf 1929 der irische Physiker John Desmond Bernal. Der Erfolg des Konzepts von 1960 und seine unglaubliche Wirkung auf Literatur und Film verdanken sich wohl den Fortschritten der modernen Medizin sowie dem griffigen Namen, der 1989 noch eine weitere Verkürzung erfuhr.

Die Geburtsurkunde des Cyborgs war ein echtes Gemeinschaftswerk: Während der Drogenspezialist Kline die psychiatrischen und pharmakologischen Teile des Konferenzbeitrags schrieb, entwarf der graduierte Ingenieur Clynes die physiologischen und technischen Passagen. Er dachte sich auch die Bezeichnung aus, die seinen Co-Autor – wie sich Clynes erinnert – zu dem Ausruf veranlasste: "It sounds like a town in Denmark !" Man beschloss aber, bei dem Wort zu bleiben.

Nathan S. Kline ist 1982 gestorben, während Manfred E. Clynes heute in Kalifornien lebt. Er wurde am 14. August 1925 in Wien als Manfred Klein geboren; sein Vater, der Schiffbauingenieur Marcell Klein, konstruierte 1914 das erste Forschungs-U-Boot der Welt. Der jüdischen Familie gelang 1938 die Flucht nach Australien, wo der junge Clynes Ingenieurwissenschaft und Musik studierte. Seine außergewöhnliche technisch-musikalische Laufbahn führte ihn 1956 ins Forschungszentrum der Rockland-Klinik, wo er sich der Physiologie und der Neurologie widmete.

Nach dem Cyborg entwickelte Clynes die Wissenschaft der "Sentik", in der man mit einem kleinen Druckmessgerät, dem Sentographen, das menschliche Gefühlsleben erforscht. Das Buch zum Thema erschien 1996 auch in Deutschland ("Auf den Spuren der Emotionen"). Seinen Arbeiten zur Musikpsychologie und -neurologie entsprang die PC-Software SuperConductor, deren Produktionen man im Internet anhören kann. Ein Vortrag, den Clynes darüber 2009 in der Harvard-Universität hielt, ist komplett auf YouTube abrufbar.

Der vor 50 Jahren vorgestellte Gedankenflug von Clynes & Kline dürfte das populärste Spin-off des amerikanischen Raumfahrtprogramms sein. Die Umsetzung im Kosmos wird aber kaum diskutiert, und schon bei der simplen Raumkrankheit bleibt jeder Astronaut sich selbst überlassen. Der Mensch ist eben immer noch der beste Cyborg.

(Der Autor dankt Manfred E. Clynes sehr herzlich fĂĽr seine AuskĂĽnfte.) (jk)