Freier Wille unter Neuronenfeuer

Nach den Erkenntnissen der Hirnforscher müssten notorische Hacker und Urheberrechtsverletzer eigentlich strafrechtsunmündig sein.

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Von
  • Richard Sietmann

Während die strafrechtliche Verfolgung von Hackern und Piraten für die Gesetzgeber in Berlin und Brüssel ein Dauerbrenner bleibt, bekommen notorische CD-Ripper und Filesharer jetzt möglicherweise Rückendeckung aus der Wissenschaft. Können Rechtsverletzer überhaupt strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden? Bekannte Neurowissenschaftler wie Wolf Singer vom MPI für Hirnforschung in Frankfurt/Main, Gerhard Roth vom Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen und Wolfgang Prinz vom Münchener MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften behaupten schon lange, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung dem Prinzip der persönlichen Schuld die Grundlage entziehen.

"Der ganze kapitalistische Markt baut darauf auf, dass der Mensch unbewusst zu bestimmten Handlungen zu verführen ist und sich dabei noch frei fühlt", meint etwa der Neurobiologe Gerhard Roth. Das Gefühl trügt: Man fühlt sich frei, aber man ist es nicht. In unzähligen Experimenten haben Forscher nachgewiesen, dass Erregungszustände im Gehirn schon eine Handlung ankündigen, noch bevor der Mensch sich bewusst ist, dass er überhaupt handeln will. Der Schuldvorwurf im Strafrecht beruht jedoch auf der Voraussetzung, dass ein Täter, statt rechtswidrig zu handeln, sich unter identischen Bedingungen auch normgemäß hätte verhalten können -- wenn er nur gewollt hätte.

Geist und Bewusstsein indes unterliegen physiologischen, chemischen und physikalischen Gesetzmässigkeiten. "Alles", erklärte Wolf Singer am gestrigen Donnerstagabend auf einer Diskussionsveranstaltung des Max-Planck-Forums in Berlin, "beruht auf neuronalen Aktivitäten -- worauf sonst?". Das Wollen, Denken und Verhalten werden von limbischen Gehirnsystemen gesteuert, die grundsätzlich unbewusst arbeiten und die dem bewussten Ich kaum zugänglich sind.

"Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren", meint auch Wolfgang Prinz. Die Vorstellung der Willensfreiheit sei lediglich ein soziales Konstrukt; tatsächlich werde das individuelle Verhalten unbewusst determiniert: "Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun". Was scheinbar als freie Willensentscheidung daherkommt, sei nichts anderes als das nachträgliche Ratifizieren einer Entscheidung, die das Gehirn in der gegebenen Situation schon längst getroffen hat.

Die Konsequenz scheint klar: Wenn es keinen freien Willen gibt, ist auch keine Verantwortung für bewusste Entscheidungen unter Abwägung von Alternativen mehr möglich und der Schuldvorwurf im Strafrecht verliert seinen Sinn. Sollte also das Rechtssystem auf die juristische Kategorie der Schuld gleich gänzlich verzichten?

Sie würde das Schuldprinzip erst dann aufgeben, wenn etwas besseres an seine Stelle träte, meinte die Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt in dem Streitgespräch. In den Vorstellungen Singers sieht sie lediglich einen "Verschiebebahnhof", der den Begründungszusammenhang für gesellschaftliche Sanktionen von der persönlichen Schuld direkt auf die Strafe selbst verlagert. Denn auch Singer will das Strafrecht mit der Abkehr vom Schuldprinzip natürlich nicht abschaffen. "In der Vollzugspraxis würde sich gar nicht so viel ändern", glaubt er. Eher werde sie "a bisserl humaner", etwa, indem sie Menschen, "die das Pech hatten, in der Normalverteilung von Eigenschaften an den Extrema zu sein", Gleichbehandlung mit denen sichert, deren Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat krankheitsweise beeinträchtigt war. In beiden Fällen konnten die Betroffenen zwar nicht anders handeln, aber bestrafen muss man die Outlaws trotzdem. "Es gibt in der Normalverteilung Ausreißer -- das ist schlimm für die, aber wir müssen uns vor denen schützen".

Ohne die Schuldfähigkeit des Angeklagten bleibt vom Strafrecht nur noch die Abschreckung abweichenden Verhaltens zum Schutz der sozialen Ordnung übrig. Damit gerät man aber schnell mit dem Artikel Eins des Grundgesetzes in Konflikt, den Hohmann-Dennhardt in Erinnerung rief. Die Menschwürde gebiete, so die Verfassungsrichterin, "dass Menschen immer als Subjekt behandelt werden, nicht als Objekt". Alles andere könne "leicht in Totalitarismus münden".

Siehe zu dem Thema auch in Telepolis:

(Richard Sietmann) / (jk)