Die US-Verlage auf der verzweifelten Suche nach der Zeitung von morgen

"Künftig erhalten die Menschen ihr Weltbild von irgendwelchen irren Bloggern, die aus ihrer Unterwäsche schöpfen", malte der US-Publizist Michael Kinsley das Schreckensbild der US-Zeitungen an die Wand.

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Von
  • Laszlo Trankovits
  • dpa

"Künftig erhalten die Menschen ihr Weltbild von irgendwelchen irren Bloggern, die aus ihrer Unterwäsche schöpfen", malte der US-Publizist Michael Kinsley im Time-Magazin die düstere Zukunft in den USA an die Wand. In der Washington Post sorgte sich der Kommentator, dass bald "die vorderste Front" im Kampf gegen die Korruption im Staat zusammenzubrechen drohe. Und Kolumnist Tim Rutten beschwörte in der Los Angeles Times die "Gefahren für die Demokratie". Die Journalisten sehen in der Krise der US-Zeitungen weit mehr als die Probleme einer Branche – sie fürchten um die politische Kultur im Land. Während Internet-Medien wie Slate sich über die "Selbstüberschätzung" der Zeitungsleute lustig machen, befinden sich die Verlage selbst auf der fieberhaften Suche nach der "Zeitung von morgen".

Dringender Handlungsbedarf scheint angesichts dramatischer Auflagenverluste geboten. Galt bisher die unangenehme Faustregel, nach der die Gesamtauflage der US-Zeitungen jährlich um etwa ein Prozent sinkt, schrillten nach den jüngsten Zahlen die Alarmglocken. Denn zwischen April bis Ende September verloren die US-Zeitungen laut des Fachinstituts "Audit Bureau of Circulation" im Vergleich zum Vorjahr 2,8 Prozent ihrer Auflage – die der besonders auflagenstarken Sonntagsausgaben sank sogar 3,4 Prozent. Dies bedeutet die größte Einbuße seit 15 Jahren. Die Gesamtauflage der US-Tageszeitungen beträgt derzeit rund 44 Millionen – 1984 gab es mit über 63 Millionen Zeitungen pro Tag den US-Rekord, seither geht es ständig bergab.

Gewinner dieser Entwicklung ist das Internet. Viele US-Zeitungen haben es versäumt, früh in die Web-Welt zu investieren und damit die Verluste von Lesern und im Anzeigengeschäft teilweise auffangen zu können. Denn nicht nur die wirtschaftlich interessante Gruppe der 19- bis 29-Jährigen findet das Internet attraktiver als die traditionelle Papier-Zeitung. Manche US-Zeitungen sind auch im Internet erfolgreich: Insgesamt nutzen laut dem US-Zeitungsverband bereits 57 Millionen Amerikaner die Web-Seiten der Zeitungen. Die New York Times hat eigenen Angaben zufolge im Internet bereits mehr Leser als Blatt-Käufer. Allerdings verlangen nur wenige Zeitungen im Internet von den Usern Geld; und selbst die Erlöse der Online-Werbung befinden sich nach Expertenangaben noch auf niedrigem Niveau.

Der Präsident des Zeitungsverlegerverbands, John Sturm, verweist dennoch auf die ungebrochene Bedeutung der Zeitung. Dies belege die Rekordzahl an Online-Lesern von nunmehr 56 Millionen. "Das einfache Starren auf die Auflagenzahlen" sei irreführend. Schließlich hätten auch viele Verlage die wenig Gewinn bringende Abgabe von Zeitungen an Großkunden (beispielsweise Luftfahrtgesellschaften) oder die kostenlose Verteilung (in Hotels) eingestellt. Die US-Zeitungshäuser befinden sich dennoch seit Langem auf der verzweifelten Suche nach neuen Konzepten. Überall wurden Kosten beschnitten, Redaktionen verkleinert, Verwaltung, Produktion und Vertrieb rationalisiert. Die Besitzer der Los Angeles Times, die Tribune-Zeitungsgruppe, suchte den achtprozentigen Auflageneinbruch mit mehreren Entlassungswellen zu begegnen – was auf erbitterten Widerstand im Haus stieß und nun jüngst sogar zur Entlassung des Herausgebers Jeffrey Johnson führte.

Zudem wird nach neuen redaktionellen und verlegerischen Konzepten gesucht. Der Ex-Präsident von Knight Ridder Digital und Direktor der "Innovationswerkstatt Neue Medien" an der Universität Arizona, Tim Mohr, forderte gar einen "Marshall-Plan" für die Branche und die Vernetzung aller US-Blätter untereinander, damit sie lebensfähig bleiben können. Die krisengeschüttelte Los Angeles Times startete eine Arbeitsgruppe "Manhattan Project", die stärkere Regionalisierung, mehr Einbindung von Lesern und Bloggern sowie Investitionen in den multimedialen respektive interaktiven Auftritt empfahl.

Zumindest Internet-Medien bezweifeln, dass die Print-Probleme die US-Gesellschaft besonders bewegen müsste. Slate-Kolumnist Jack Shafer lästerte über den Versuch, "Arbeitsplatzgarantien für Journalisten mit dem öffentlichen Wohl" zu verwechseln. Zudem sei die Zahl der Zeitungsjournalisten seit 1971 um 70 Prozent gestiegen. Wenn jetzt wieder Redaktionen zurückgestutzt würden, könne ja wohl nun "nicht mit der Ermordung der Demokratie" argumentiert werden. Die Auflageneinbrüche signalisieren nach Ansicht vieler Experten weniger den drohenden Tod der Branche als vielmehr einen noch länger währenden Strukturwandel. Beleg dafür scheint auch, dass es für zum Verkauf anstehende Zeitungshäuser reichlich zahlungskräftige Interessenten gibt – laut Wall Street Journal wollen gleich drei kalifornische Milliardäre die Los Angeles Times erwerben. Schließlich liegt die jährliche Profitrate der US-Zeitungshäuser seit langer Zeit trotz aller Krisen nach Angaben des Wall Street Journal nach wie vor bei 15 bis 20 Prozent des eingesetzten Kapitals. (Laszlo Trankovits, dpa) / (jk)