Erste Filesharing-Klage wird vor US-Schwurgericht verhandelt
Die Geschworenen haben das Wort: Erstmals muss die US-Musikindustrie eine ihrer Filesharing-Klagen vor einem Schwurgericht vertreten. Am Dienstag beginnt der Prozess gegen eine US-Bürgerin, die einige Songs über Kazaa verbreitet haben soll.
In einer Kleinstadt im Mittelwesten der USA beginnt am morgigen Dienstag ein Prozess, der weit über die Grenzen des Landes hinaus Beachtung finden wird. Vor dem Bezirksgericht in Duluth (US-Bundesstaat Minnesota) wird sich die US-Bürgerin Jammie Thomas vor einer Jury gegen einen ungleich größeren Gegner verteidigen: die Musikindustrie, vertreten durch ihren amerikanischen Verband RIAA. Es geht, wie in zahllosen ähnlichen Verfahren zuvor, um Filesharing. Thomas soll zahlreiche Songs der klagenden Plattenfirmen (Virgin und andere) über Kazaa verbreitet haben – ein Vorwurf, den sie vehement bestreitet und den sie vor den Geschworenen mit Hilfe des erfahrenen Anwalts Brian Toder entkräften will. Doch auch für die RIAA steht eine Menge auf dem Spiel.
Die Musikindustrie hat es seit Beginn ihrer Klagekampagne gegen angebliche Filesharer vor über vier Jahren stets zu vermeiden gewusst, dass die Fälle tatsächlich zur Verhandlung vor einer Jury kommen. Mit gutem Grund, wie Beobachter und einige beteiligte Anwälte vermuten. Die RIAA könne eine tatsächliche Urheberrechtsverletzung in der Regel nicht nachweisen, kritisiert zum Beispiel der New Yorker Anwalt Ray Beckerman, der selbst angebliche Filesharer gegen die Musikriesen vertreten hat. Die RIAA stützt ihre Klagen in der Regel auf eine IP-Adresse und das formaljuristische Argument, die Bereitstellung ("making available") eines Songs zum Beispiel im Share-Ordner eines Kazaa-Clients käme einer aktiven Verbreitung im Sinne des US-Urheberrechts gleich.
Diese von gegnerischen Anwälten stets in Frage gestellte Argumentation des Verbands muss im Fall Virgin gegen Thomas nun vor den Geschworenen Bestand haben. Soweit bekannt ist, handelt es sich um die erste der zigtausend Filesharing-Klagen, die es bis zu einer Verhandlung gebracht hat. Während sich die meisten Beklagten aus Angst vor immensen finanziellen und rechtlichen Konsequenzen verglichen haben – unterstützt durch ein von der RIAA angebotenes Onlineverfahren – zog sich der Verband aus Prozessen mit widerspenstigeren Gegnern zurück. Selbst im Rückzug versuchten die RIAA-Juristen, rechtskräftige Entscheidungen, die einen Präzedenzcharakter für die zahllosen ähnlichen Verfahren haben könnten, zu vermeiden.
Für die Beklagten, die in der Regel über wenig finanzielle Reserven für einen Prozess gegen einen Industriegiganten verfügen, bedeutet das weitere Streitigkeiten – und Kosten –, selbst wenn die Klage an sich längst abgewiesen wurde. Die Beklagten Tanya Andersen und Deborah Foster, die sich nach langwierigem Streit gegen die RIAA behaupten konnten, haben diese Erfahrung gemacht.
Auch bei Virgin gegen Thomas hatten die RIAA-Anwälte bis zuletzt versucht, eine Verhandlung zu verhindern oder zumindest den Entscheidungsspielraum der Geschworenen einzuschränken. Einen in letzter Minute eingereichten Antrag der Industrievertreter, zumindest einige der strittigen Fakten vorab per Richterentscheid feststellen zu lassen und damit aus der Verhandlung herauszuhalten, wies das Gericht zurück. Der Prozess soll nun am Dienstag mit der Auswahl der Geschworenen beginnen.
Gerade in der Vehemenz solcher Rückzugsgefechte sehen Beobachter ein Indiz dafür, dass der Verband weiß, wie dünn das Eis unter seinen Füßen ist. Der in den vergangenen Monaten gewachsene Widerstand gegen die Prozesskampagne bringt die US-Musikindustrie zunehmend in Schwierigkeiten, ihre Fälle darzulegen. In zuletzt in einem anderen Verfahren eingereichten Dokumenten nehmen die RIAA-Anwälte von der "Making available"-Argumentation Abstand und wählen den auch im US-Copyright verwandten Begriff der Verbreitung ("Distribution"). Allerdings, so bemerken Beobachter, bringe die argumentative Kosmetik allein noch keinen Nachweis eines Gesetzesverstoßes. Nach Rechtsmeinung der RIAA-Gegner müsse die RIAA immer noch im Einzelfall nachweisen, dass ein Individuum einen tatsächlichen Verstoß gegen das Urheberrecht begangen habe. Mit wenig mehr als einer – zudem möglicherweise dynamisch vergebenen – IP-Adresse sei das nicht möglich.
Die "Schleppnetztaktik" der Musikindustrie verfängt also offenbar nicht immer, und nicht immer trifft es die Richtigen. "Wenn du mit einem Netz fischst, wirst du manchmal ein paar Delfine fangen", meinte dazu eine RIAA-Sprecherin gegenüber der US-Zeitung Pittsburgh Post-Gazette. Manchmal ist der Beifang aber auch weniger harmlos, als die RIAA das gerne hätte. Tanya Andersen hat nun ihrerseits die RIAA verklagt und will erreichen, dass ihre Klage als Sammelklage zugelassen wird. An einem ganzen Netz voller zappelnder Delfine könnte sich auch die RIAA verheben. (vbr)