Berliner Piraten: It's the content, stupid
Das selbst über den kühnsten Erwartungen liegende Wahlergebnis der Berliner Piraten wirft viele Fragen auf – nach dem "Warum", aber auch nach der weiteren Entwicklung der Partei.
"Die Piratenpartei kann man wählen, aber die Stimme ist dann natürlich im Gulli", kommentierte der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle kurz vor der Bundestagswahl 2009 die damals noch chancenlose Kleinpartei. Zwei Jahre später hat sich das Stimmungsbild zumindest in der Hauptstadt gründlich gewandelt: Während die FDP am Sonntag den Wiedereinzug ins Berliner Abgeordnetenhaus klar verpasste, holten die Piraten aus dem Stand heraus kaum für möglich gehaltene 8,9 Prozent. Erst vor zwei Wochen übersprang die Partei in ersten Umfragen die Fünf-Prozent-Hürde.
15 Berliner Piraten werden in den nächsten fünf Jahren hauptberuflich Politik machen. Dafür gibt es eine monatliche "Entschädigung" in Höhe von 3.233 Euro plus 955 Euro Unkostenpauschale. Zusätzlich stehen 580 Euro für angestellte Hilfskräfte bereit. Mit diesen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet, wird der Berliner Landesverband in den nächsten Jahren wohl entscheidend den programmatischen Weg der Gesamtpartei vorzeichnen. Eine ähnliche Strahlkraft ging Anfang der 1980er Jahre von den Baden-Württemberger Grünen aus, denen ebenfalls als erster Landesverband ihrer Partei der Sprung in ein Abgeordnetenhaus gelang und die inzwischen auch den ersten grünen Ministerpräsidenten stellen.
Über die Ursachen des Wahlergebnisses gehen die Einschätzungen weit auseinander, auch unter Demoskopen. So verkündete (PDF-Datei) die Forschungsgruppe Wahlen noch am Wahlabend, nur 10 Prozent der Piratenwähler hätten "wegen der Inhalte" für diese Partei gestimmt – eine Analyse, die über die Nachrichtenagentur dpa von zahlreichen Medien aufgegriffen wurde. Umgekehrt ermittelte Infratest Dimap, dass für Piratenwähler "stärker als bei allen anderen Parteien inhaltliche Überlegungen" eine Rolle gespielt hätten. Besonders die Schul- und Bildungspolitik der Partei wäre für die größtenteils jungen Sympathisanten ein Grund für ihre Wahlentscheidung gewesen.
Diese Erkenntnisse passen freilich nicht in das Bild jener politischen Kommentatoren, die nun vom "Durchbruch für die digitalen Wutbürger" reden. Tatsächlich hat die Piratenpartei aber nichts mit jenen zumeist extremistischen Protestparteien gemein, die aus einer diffusen Unzufriedenheit gegenüber "die da oben" heraus gewählt werden. Auch populistische Forderungen, ein weiteres Charakteristikum von Protestparteien, waren von den Piraten kaum zu hören. Forderungen etwa nach einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr mögen unrealistisch und schwerlich finanzierbar sein, bestimmten aber keinesfalls den Wahlkampf und die öffentliche Wahrnehmung in Berlin.
Vielmehr bedienten die Piraten mit ihrem zentralen Wahlkampfslogan "Mehr Demokratie wagen!" das Bedürfnis vieler Berliner nach mehr Glaubwürdigkeit und Transparenz in der Politik. So konnte sie auch einige Nicht-Wähler mobilisieren: Aus der Wählerwanderungsanalyse etwa der ARD ergibt sich, dass die größte Gruppe der Piratenwähler unter den bisherigen Nicht-Wählern mobilisiert wurde.
Die Partei will es nicht bei leeren Worthülsen belassen, wenngleich die meisten der 129.795 Hauptstädter, die den Piraten ihre Zweitstimme gaben, mit Plattformen wie LiquidFeedback wohl wenig anfangen können. Der frisch aufgesetzte Fraktionsblog soll jedenfalls dazu beitragen, dass sich Abgeordnete und Wähler nicht entfremden. Der Berliner Spitzenkandidat Andreas Baum betonte am Montagmittag nochmals, man wolle den Bürgern auch innerhalb der Legislaturperiode permanent ein Sprachrohr geben, anstatt sie erst in fünf Jahren über die Arbeit der Partei abstimmen zu lassen. Es wird spannend zu beobachten, ob und wie sich die Grundsätze der Partei mit der neuen parlamentarischen Arbeit vereinbaren lassen und wie die Piraten ihre Leitlinien auf der Oppositionsbank vertreten werden.
Siehe dazu auch den Kommentar im c't-Blog:
(jh)