Elektronische Gesundheitskarte: Es begann vor zehn Jahren
Mit einem Skandal um tödliche Wechselwirkungen eines cholesterinsenkenden Medikaments begann vor zehn Jahren die lange Geschichte dessen, was im September als Elektronische Gesundheitskarte endlich eingeführt werden soll.
Der Lipobay-Skandal erschütterte vor zehn Jahren die Bundesrepublik. Der Arzneimittelhersteller Bayer musste am 8. August sein cholesterinsenkendes Medikament vom Markt nehmen, nachdem tödliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten bekannt geworden waren. Bei der Untersuchung der Vorfälle stellte sich heraus, dass es kaum Aufzeichnungen über die von betroffenen Patienten eingenommenen Medikamente gab. Berater von Roland Berger schlugen die Einführung einer Chipkarte vor, auf der alle Medikationen pflichtschuldigst zu speichern sind, dazu ein Computersystem, das die Medikationen analysieren und Alarm schlagen kann. Der Vorschlag gilt als die Geburtsstunde der elektronischen Gesundheitskarte.
Nach der Veröffentlichung des Berger-Gutachtens ging es hoch her. Ärzte und Apotheker, die Krankenkassen und Patientenverbände sowie die Gesundheitsindustrie und auch die Datenschützer meldeten sich zu Wort. Jeder wollte beteiligt sein, jeder hatte eigene Ideen und Vorschläge. Aus der einfachen Verschreibungsliste wuchs ein höchst komplexes System, das Deutschland eine "telemedizinische Infrastruktur" bescheren sollte. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärte die Gesundheitskarte zum "Leuchtturmprojekt" und schwärmte von den Exportmöglichkeiten.
Mittlerweile ist die Lage eher ruhig. Am 1. September beginnt die Auslieferung einer in ihren Leistungen drastisch reduzierten Gesundheitskarte bei den gesetzlichen Krankenkassen. Sie müssen jeweils 10 Prozent ihrer Versicherten mit einer neuen Karte versorgen, andernfalls werden Verwaltungsmittel gekürzt. Fast alle Kassen haben damit begonnen, die Versicherten anzuschreiben, damit diese die notwendigen Fotos einschicken, die die neue Karte fälschungssicherer machen soll. Kinder und Jugendliche sowie Dauerkranke und Bewohner von Altersheimen sind in der Regel ausgenommen. So gibt es Kassen, die die 10-Prozent-Regel einhalten können, ohne dass die aufwändige Fotoaktion gestartet werden muss.
Den Jahrestag des Lipobay-Skandals hat der IT-Lobbyverband Bitkom zum Anlass genommen, die Zustimmung zur elektronischen Gesundheitskarte untersuchen zu lassen. Wie im Jahre 2009, als der Bitkom eine breite Zustimmung zur Gesundheitskarte ermittelte, ist auch diesmal die Stimmung unter 1006 repräsentativ Befragten gut. Mit 70 Prozent gegenüber 59 Prozent ist die Zustimmung noch breiter geworden. Besonders jüngere Bürger freuen sich nach der Befragung darauf, bald die Gesundheitskarte zu bekommen. Bitkom-Präsident Dieter Kempf nahm die Zahlen zum Anlass, eine schnellstmögliche Einführung der Karte zu fordern.
Passend zu den für die Industrie freundlichen Akzeptanzzahlen veröffentlichte heute die Gematik als technische Instanz hinter der elektronischen Gesundheitskarte zwei neue Release-Vorgaben für die Hersteller von Kartenterminals für die Gesundheitskarte. Mit Release 0.5.2 bzw. Release 0.5.3 (ZIP-Dateien) wird eine viel diskutierte Sicherheitslücke geschlossen und die Eingabemöglichkeit einer PIN über ein ungesichertes Terminal verhindert. Die Vorgabe gilt für alle neuen Geräte, die am 1. Oktober [Update: ausgeliefert zur Zulassung eingereicht werden]. Für bereits ausgelieferte Geräte müssen die Hersteller die Vorgabe per Software-Update erfüllen.
(vbr)