Intelligent, vernetzt und teilweise schon real: Industrie 4.0
Industrie 4.0 ist das nächste große Ding: Die Verschmelzung von Internet und physikalischer Welt zu einem "Internet der Dinge" hat sich in den vergangenen Jahren von einer Vision in ein greifbares Stadium weiterentwickelt. Experten ziehen Bilanz.
Im Bitkom-Forum wagten Experten eine Bestandsaufnahme zum aktuellen Schlagwort "Industrie 4.0". Flächendeckend sei sie zwar noch nicht zu finden, sagte Stefan Ferber von Bosch Software Innovations anlässlich der Podiumsdiskussion "Industrie 4.0 - Chancen und Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft" im Forum der Bitkom-World (Halle 4, A58), einem Gemeinschaftsstand für Unternehmen, die Produkte rund um Cloud Computing, Big Data, Security, Industrie 4.0 sowie Mobile Services und Solutions anbieten, obwohl das Thema bereits umfangreich erforscht wurde.
Mittlerweile bieten günstige Chips und die zunehmende Vernetzung gute Bedingungen für die Realisierung dieses Konzepts, das in Fabriken zentrale Steuerung überflüssig macht: Vernetzte intelligente Objekte handeln autonom und wissen selbst, was an welchen Ort zu tun ist. Darauf verwies Dr. Henning Kagermann, Präsident von acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. Eine schnelle und baldige Durchdringung erwarten die Experten auf dem Podium vor allem in den Einsatzfeldern Gesundheit, Mobilität und Energie.
Auch wenn die Umsetzung des 4.0-Konzepts noch förderungsbedürftig ist, in einzelnen Bereichen gibt es bereits "Industrie 4.0", etwa in der Logistikkette. Wenn mit Sensoren und RFID-Funkchips ausgestattete Lebensmittel melden, ob die Kühlkette eingehalten wird zum Beispiel. Systeme dieser Art zeigen Aussteller seit Jahren auf dem CeBIt-Stand AutoID/RFID, so auch in diesem Jahr (Halle 5, D46).
Aber es sind noch ganz andere Geschäftsmodelle denkbar, etwa im Bereich der Consumer-Produkte. So wird sich nach Einschätzung der Experten in naher Zukunft ein Paket "selber routen" und beispielsweise nicht zwangsläufig an die Adresse des Empfängers geschickt, sondern dahin, wo der sich gerade aufhält. Ein anderes Beispiel ist die individuelle Produktion von Artikeln, etwa Schuhe, die sich an dem Fußprofil des Nutzers orientieren.
"Industrie 4.0 wird kommen", sagte Frank Riemensperger, Vorsitzender der Geschäftsführung bei Accenture. An jedem höherwertigen Produkt wird in Zukunft ein kommunikationsfähiger Sensor sein. Für die Umsetzung der einzelnen Geschäftsmodelle wird es dann verschiedene Wege geben, so seine Einschätzung.
Daher sollten Unternehmen möglichst schnell die unterschiedlichen Abteilungen, Ingenieure und IT-ler zusammenbringen, betonte Ferber. Denn die Herausforderungen liegen in der interdisziplinären Zusammenarbeit, waren sich die Experten einig. Auch sei eine "intelligente Förderung" durch den Staat erforderlich, die die Entstehung von Geschäftsmodellen nach vorne bringt.
Denn Industrie 4.0 ist nach Einschätzung der Experten kein Spaß, sondern von großer Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit des deutschen Produktionsstandortes. Bereits im Oktober hat der Arbeitskreis Industrie 4.0 "Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0" erarbeitet und an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) übergeben. Zu den Mitgliedern des Arbeitskreises gehören Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden.
Auch ITK-Unternehmen haben die Relevanz des Themas offenbar erkannt. "Wenn Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobilbau mit der IT-Industrie zusammenkommen, entstehen riesige Chancen“, sagte Martina Koederitz vom Bitkom-Präsidium zur Vorstellung einer diesbezüglichen Umfrage am Messe-Mittwoch.
81 Prozent der IT-Unternehmen sehen in der Industrie 4.0 in den kommenden Jahren ein wichtiges Geschäftsfeld, für fast jedes dritte IT-Unternehmen besitzt dieses Thema bereits heute eine große Bedeutung. 90 Prozent meinen, Industrie 4.0 sei für das produzierende Gewerbe wichtig, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Zehn Prozent der befragten Unternehmen haben spezielle Produkte für die Industrie 4.0 im Angebot beziehungsweise entwickeln sie gerade (13 Prozent). "Die Digitalisierungswelle erreicht nun die Fertigungsindustrie. Die IT-Anbieter können hier mit ihrem in anderen Branchen gesammelten Prozess- und Organisationswissen helfen", meinte Koederitz.
Als Voraussetzung für Industrie 4.0 nannte sie ein flächendeckendes und sicheres Superbreitbandnetz mit hoher Verbindungsstabilität und geringen Latenzzeiten. Außerdem werde Industrie 4.0 Arbeitswelt, Arbeitskultur und das Bildungswesen verändern. So sollten zum Beispiel Wirtschaftsinformatiker auch Module aus den Bereichen Maschinenbau oder Elektrotechnik belegen. Gefragt seien außerdem interdisziplinäre Lehrstühle. (ur)