Internetdienste nagen am Selbstverständnis der Netzbetreiber

Oft scheint es, als kämen klassische Telcos und Anbieter Internet-basierter Dienste wie der Cloud von verschiedenen Planeten. Auf einer Konferenz zu Zukunft und "Intelligenz" der Next Generation Networks werden Konflikte und Berührungspunkte sichtbar.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 67 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Richard Sietmann

Die durch das Internet möglich gewordenen Dienste fordern die Netzbetreiber heraus. Ob WebTV oder die Fernüberwachung des Eigenheims, die "Over The Top" (OTT) angebotenen Inhalte und Dienste unterlaufen nach Ansicht der Telcos die Kontroll- und Tarifierungsmöglichkeiten derjenigen, die die Netzanbindung und Konnektivität zwischen Anbietern und Abnehmer überhaupt erst herstellen.

Das nagt. Wie sehr, zeigt sich wieder einmal auf der International Conference on Intelligence in Next Generation Networks (ICIN 2012) in Berlin, die in diesem Jahr unter dem Motto "Enabling the Internet of Everything" steht. Die viertägige Veranstaltung von Netzbetreibern und Ausrüstern widmet sich der Schnittstelle von Technik und Geschäftsmodellen und beschäftigt sich noch bis zum Donnerstag mit Themen wie Cloud Computing für Netzbetreiber, Identitätsmanagement, Netzsicherheit sowie der als "Internet der Dinge" popularisierten Machine-to-Machine- (M2M)-Kommunikation.

Und natürlich steht das Verhältnis der Telcos zu den OTT-Dienstleistern auf der Agenda. Diese können durchaus etwas gemeinsam haben, nämlich das Interesse, Kunden durch "Service Lock-in" an sich zu binden. "Architekturen, Interaktionsparadigmen und Plattformen kommen hinter den Geschäftszielen erst an zweiter Stelle", kritisierte Roberto Minerva, der den Bereich Innovative Architekturen des "Future Centre" in der Strategie-Abteilung der Telecom Italia leitet.

Bislang positionierten sich die Akteure mit dem, was sie am besten können. Die Netzbetreiber stellen sich die M2M-Kommunikation vermittelt durch die SIM-Karte des Mobilfunks vor, Webdienstleister wollen jedes Objekt mit einer URL versehen wissen und Hersteller ziehen die Internet-Verknüpfung von Sensoren und Ressourcen über ein von ihnen eingerichtetes Gateway vor. "Es dreht sich alles um Geschäftsmodelle, die von der Technologie ermöglicht werden."

Auf der ICIN setzte sich Minerva unter dem Titel "Service Control Paradigms in Future Networks" ausführlich mit der Evolution von Netzdiensten auseinander. Der Italiener ist ein intimer Kenner der von den Telcos betriebenen Entwicklung intelligenter Netze (IN), an der er seit dem TINA-Projekt der frühen 1990er Jahre bis zum IP Multimedia Subsystem (IMS) der heutigen 3G- und 4G-Mobilfunknetze beteiligt war. Diese Historie, die im IMS sowie in der vom TISPAN-Projekt des ETSI standardisierten NGN-Architektur für die Netze der nächsten Generation gipfelte, stellt zugleich den roten Faden der seit 1989 jährlich stattfindenden ICIN-Konferenzen dar.

Während die Telcos in dieser Zeit, ausgehend von Mehrwertdiensten für die Telefonie, ihr Netz zu einem Multiservice-Netz ständig zu erweitern trachteten, habe die Computerwelt stets mit Client/Server-Architekturen mit Remote Procedure Calls über ein "dummes Netz" hinweg operiert, resümierte Minerva. Das Client/Server-Paradigma setze sich nun in dem Cloud-basierten Modell für Netzdienste fort, führe dabei aber zu verteilten, gleichwohl immer größeren, energiehungrigen Serverfarmen. Kritisch zu sehen sei auch der Trend zu monolithischen Insellösungen à la Google oder Amazon, denn "ein Cloud-Computing-Provider denkt nicht an Interoperabilität mit anderen Cloud-Anbietern".

Das IN-Konzept wiederum gerate mit seiner starken Kopplung von Diensten an die Netzinfrastruktur und der daraus resultierenden Komplexität an Grenzen, meinte Minerva. Neue Funktionen ließen sich nur mit großem Aufwand einführen. So sei etwa das im Mobilfunk entstandene IMS als eine Art von von Middleware mit dem Ziel entwickelt worden, dieselben Multimediadienste über unterschiedliche Netzinfrastrukturen hinweg an den Endkunden bringen zu können. Doch, erläutert der Italiener, "die Komplexität ist enorm", und selbst wenn die Netzarchitektur von LTE im Verhältnis zu den vorangegangenen Mobilfunkgenerationen eher flacher geworden sei, "steckt da IMS drin". Am Ende könnte sich herausstellen, dass Peer-to-Peer-Systeme (P2P) weit mehr den ursprünglichen Prinzipien des Internet entsprechen und den Weg in "ein neues und offenes Netz der Zukunft" weisen, über das die verschiedenen Anbieter in einen offenen Wettbewerb auf dem Markt treten können.

Für die Dienste allerdings, die mit dem Internet der Dinge in Verbindung gebracht werden, reiche selbst P2P nicht aus. Die M2M-Kommunikation erfordere eine andere Art der Konnektivität als die Bereitstellung von Diensten oder Inhalten für Endkunden. Sie werde sich eher am Parsing kontinuierlicher Datenströme orientieren, wie es IBM mit dem Stream Computing zur Echtzeit-Analyse großer Datenmengen oder Twitter mit SpiderDuck zur Echtzeit-Indexierung von Webseiten anhand der URLs in Tweets bereits vormachen.

Das klassische IN-Konzept der Telcos zur Abwehr der OTT-Konkurrenz hält Roberto Minerva jedenfalls für überholt. "Was bringt es noch, das Tor zu schließen, wenn die Bullen aus dem Stall sind?", zitierte er ein italienisches Sprichwort. (ssu)