Was war. Was wird. Von Grenzen, Grenzbeamten, Grenz-IT - und Wintermärchen.
Tja, wenn Software-Updates die Grenzen öffnen, dann ist mal wieder ein IT-Wintermärchen im Gange. Derweil kämpft die SPD ihren ganz eigenen Kampf mit der digitalen Welt. Und das nicht nur in Antragsbüchern, befürchtet Hal Faber.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Puh, da sind wir noch einmal davongekommen: Fast acht Stunden lang stand das Schengener Informationssystem still und war für die Staaten nicht erreichbar, die keine lokale technische Kopie besitzen oder diese nur unregelmäßig ziehen. Mitten im Kampf gegen den Terror war ein Software-Update fällig, das keinen Aufschub duldete und recht plötzlich von den Technikern von EU-LISA angekündigt wurde. Nicht auszudenken, wenn Erika Mustermann, geboren in Damaskus, unabgefragt in unseren wunderbaren Schengen-Raum eingereist wäre. Seit Jahren fahnden alle möglichen Behörden mit dem Bild nach dieser Frau, die bereits im Besitz des neuen Ankunftsausweises ist, der bei seiner Vorstellung vom BAMF-Chef Weise als "IT-technisches Wintermärchen" gefeiert wurde. Immerhin soll dieser Ausweis mitsamt der hinter ihm liegenden Infrastruktur einer zentralen Datenbank und Erfassungs-Arbeitsplätzen in den Erstaufnahme-Einrichtungen das erste Großprojekt sein, in dem die IT-Spezialisten und nicht die Politik das Sagen, ähem, räusper, die "Vorfahrt" haben. Wir kennen das ja vom Straßenverkehr, wenn Polizeieskorten alles aufhalten, wenn ein hohes Tier vorbei braust.
*** Wo SIS so kippelt, ächzt und knackt, dass Daten-Aufnehmer und -Abgleicher in den tollen Registrierungs-"Hotspots" auf kalten Entzug gesetzt werden, da ist es nur folgerichtig, wenn am kommenden Dienstag Frontex ausgebaut wird, mehr als 1000 Köpfe zusätzliches Personal bekommt, dazu 1500 weitere Grenzbeamte aus den Mitgliedsstaaten und viele, viele Computer. Etwas lustig klingt es schon, dass man daneben auch auf europäischer Ebende an einer Gesetzesinitiative "zu einem einheitlichen europäischen Dokument für Flüchtlinge" werkelt, wo wir doch gerade unseren tollen deutschen Ankunftsausweis präsentiert haben. Die Vorstellung, dass ganz Europa das fortschrittliche Kerndatenbanksystem von Bundes-CIO KLaus Vitt akzeptiert und obendrein den ordentlichen gefalteten Papierlappen unserer Bundesdruckerei, hat etwas Skurriles. Die Spannung steigt, und am Ende steht die Frage, wer von rechts gekommen ist bei der allfälligen Datenversorge für unsere rein sprachlich ausgezeichneten Flüchtlinge. Da liegen die "Flüchtlingsgespräche" nahe, die über das edelste Teil eines Menschen gehen, seinen Pass, einen Ausweis, der für jedwede Ordnung zuständig ist.
"Die Sorge für den Menschen hat in den letzten Jahren sehr zugenommen, besonders in den neuen Staatengebilden... Aber die Pässe gibts hauptsächlich wegen der Ordnung. Sie ist in solchen Zeiten absolut notwendig. Nehmen wir an, Sie und ich liefen herum ohne Bescheinigung, wer wir sind, so daß man uns nicht finden kann, wenn wir abgeschoben werden sollen, das wär keine Ordnung. Sie haben vorhin von einem Chirurgen gesprochen. Die Chirurgie geht nur, weil der Chirurg weiß, wo z. B. der Blinddarm sich aufhält im Körper. Wenn er ohne Wissen des Chirurgen wegziehn könnte, in den Kopf oder das Knie, würd die Entfernung Schwierigkeiten bereiten. Das wird Ihnen jeder Ordnungsfreund bestätigen."
*** Google übersetzt Ankunftsausweis übrigens jahreszeitlich passend mit "advent card", ein "papier d'avent" wäre aus dieser Weiterübersetzung im französischen Sprachraum auch passend und sicher gibt es einen hübschen finnischern Ausdruck wie der zum Eukonkannonkisat mit den Ehefrauen. Zum ersten Mal in seiner Firmengeschichte hat sich das Startup-Sammelsurium Siemens ein englisches Firmenmotto zugelegt, das "prägnant und knackig die Philosophie des Hauses" benennen soll. "Just do it" war bekanntermaßen vergeben, auch "Vorsprung durch Technik" hat jemand anders. So entschied man sich bei Siemens für "Ingenuity for Life". Dafür offeriert uns Google Einfallsreichtum, Genialität, Findigkeit, Raffiniertheit und Brillianz, na bitte, wie findig. Die französische Variante wäre Ingenuité, ist aber mit "Treuherzigkeit" in der Rückübersetzung etwas suboptimal ausgefallen. Deshalb heißt es dort korrekt "L'ingénousité au service de la vie". Auch "Engenhosidade para a vida" dürfte die Sprach-Stefanowitsche mit der Brillianz entzücken, wie da ingênuo umgangen wurde. Ahnungslos will man bei Siemens halt nicht sein, denn man will ja ran an die "die Ideen unserer klugen Köpfe innerhalb und außerhalb unseres Unternehmens", was nur hartgesottene Foristen anders übersetzen.
*** Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat es nicht geschafft, die hochgelobten Wahl-Tablets einzusetzen, die als Zeichen des unbedingten Ja zum digitalen Fortschritt ausgelegt wurden. Böse Genossen mit Technik-Kenntnissen behaupten, dass die Wahlleiterin Doris Ahnen bei der Tablet-Abstimmung so erschrocken war, als der Rechner das sofort ermittelte Ergebnis von 74 Prozent für Sigmar Gabriel anzeigte, dass sie die Prozedur mit Wahlzetteln wiederholte. 74,3 Prozent dokumentieren einen "Schweren Rückschlag", ein "Fiasko" oder eine "Blamage" für den Mann, der die Vorratsdatenspeicherung lobte und nun die große alte Arbeiterpartei dazu brachte, im TTIP-Abkommen das freundliche Emoji-Gegrinse des Kapitalismus zu sehen. Zwar haben die "Parteisoldaten" keinen Zugang zu den TTIP-Dokumenten wie etwa ExxonMobilde oder BusinessEurope, aber mit dem Siggy seinem Ministerium wird da schon was rauskommen. Die 150.000 Menschen, die in Berlin gegen TTIP demonstrierten, die wollen wir mal schnell vergessen. Das war eine Sammlung von Verirrten. Aber von großen Würfen war ja auch nie die Rede, oder?
*** "Grausige Entdeckung: noch ein NSU-Opfer" titelte die tageszeitung über die vorgelesene Aussage von Beate Zschäpe im NSU, die eine schwer erträgliche Geschichte auftischte, von der hilflosen Frau, die aus Liebe und Sorge um ihre "Familie" schweigen musste und nichts unternehmen konnte. Diese Familie tötete Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. In einer Zeit, in der rechtsextreme Parteien und ihre Pegida-Sturmtruppen von der Sorge um die deutsche "Familie" schwafeln und Flüchtlingsheime brennen, muss die Aufklärung weiter gehen. Ohne die Hilfe der Terroristin, die Bekenner-DVDs verschickte, deren Inhalt sie angeblich nicht kannte. Aber mit der Hilfe und den Tricks von IT-Spezialisten.
Was wird.
In den nächsten Tagen wird Julian Assange in der Botschaft von Ecuador Besuch aus Schweden bekommen. Die beiden Länder haben sich auf ein Rechtshilfeabkommen in der Causa Assange geeinigt, das eine Befragung des Australiers ermöglicht. Zeitnah zu dieser Befragung zum Vorwurf der "Vergewaltigung in einem minderschweren Fall" wird in Schweden über eine Anklage entschieden. Entfällt die diese Anklage, muss sich Assange mit der britischen Justiz beschäftigen: Er wurde vor 5 Jahren verhaftet und saß 10 Tage im Gefängnis, eher nach einer Kautionszahlung unter Meldeauflagen entlassen wurde. Das Geld der Bürgen wurde eingezogen, doch ist der Verstoß gegen Haftauflagen ein eigenständiges Delikt. Vielleicht ist es diese Perspektive, die zu ihn düsteren Prognosen vom erlebten Ende der Privatsphäre treibt, veröffentlicht in seinem Haussender Russia Today.
Bekanntlich hilft hier die Mathematik und auch die IT hat ihren Anteil daran, sei es mit DANE oder p=p. Gegen alle düsteren Prognosen ist es an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass die Kryptologen hier eine gesellschaftliche Verantwortung tragen wie die Kernphysiker, die sich einstmals auf den Pugwash-Konferenzen mit der atomaren Bedrohung beschäftigten. Kryptographie ist die einzig sinnvolle Antwort auf die Frage ob wir überwacht werden. Denn so stellt sich die zentrale Frage, wie Überwachung behindert, verteuert, erschwert werden kann. Nun gibt es nicht allein die IT, auch mit politischen Forderungen wie die der Abschaffung des deutschen Verfassungsschutzes kann man Verantwortung übernehmen. Die moralische Bankrotterklärung dieser Truppe, die vor der Mordserie des NSU begann, hat dieser Tage einen neuen Höhepunkt erklommen als dessen Chef allen Ernstes verkündete: "In manchen Bereichen unseres Hauses kann man all das machen, was man schon immer machen wollte, aber man ist straflos. Zum Beispiel Telekommunikations-Überwachung." (jk)