re:publica: Über das Chlorhühnchen hinausdenken
Der Kampf gegen das schwer geheime Handelsabkommen TTIP hat stellenweise Züge, als müsste sich das Digitalzeitalter gegen den drohenden Weltuntergang stemmen. Auch die re:publica diskutierte TTIP auf mehreren Bühnen.
Während das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU erstmals für Donnergrollen auf der Berliner politischen Bühne sorgte, haben sich die netzaffinen Besucher der re:publica mit der Frage beschäftigt, was in dem Geheimpaket – außer den fast schon sprichwörtlichen Chlorhühnchen aus Amerika – alles stecken könnte. Dabei wurden Unterschiede deutlich. Joachim Bühler vom Branchenverband Bitkom sah in der Transatlantic Trade and Investment Partnership die Chance, speziell bei digitalen Gütern zu einem fairen Interessenausgleich zu kommen, Bruno Kramm von der Piratenpartei lehnte das Abkommen als Ausdruck der Schutzinteressen alter Industrien rundweg ab.
Den Auftakt zu den TTIP-Sessions der re:publica setzte das politische Berlin. Am Tag vor dem Klassentreffen der Digitalszene traf sich Arbeitsminister Sigmar Gabriel (SPD) mit Michael Froman und Karel De Gucht, den beiden TTIP-Verhandlungsführern der USA und der EU. Dabei kritisierte Gabriel zwar die Geheimverhandlungen und den umstrittenen Investorenschutz ISDS fand aber auch lobende Worte für TTIP. Er forderte, dass der Bundestag über das Freihandelsabkommen abstimmen sollte. Gleichzeitig griff Gabriel die Aktionen von Campact scharf an: "470.000 Menschen haben gegen etwas unterschrieben, was es noch gar nicht gibt." Es werde der Eindruck erweckt, dass es bei der überzogenen Kampagne gegen TTIP um Leben und Sterben ginge.
Die Debatte der hohen Politik spielte direkt in die erste TTIP-Veranstaltung der re:publica hinein, die von der Bertelsmann-Stiftung gesponsert wurde. Zunächst stellte der Journalist und Blogger Glyn Moody die bisher bekannten Grundzüge von TTIP vor. Er kritisierte vor allem die überaus optimistischen TTIP-Studien wie die vom Centre for Economic Policy Research (CEPR), die Handelsvorteile in Milliardenhöhe prognostizieren, wenn TTIP kommt. Diesen Studien setzte er das von der Linken in Auftrag gegebene OSFE-Gutachten gegenüber, in dem die behaupteten Vorzüge von TTIP wesentlich geringer eingeschätzt werden und es sogar zu negativen Zahlen kommt, wenn entgangene Steuereinnahmen und die Kosten für Umschulungen oder Unterstützungen von Arbeitskräften einbezogen werden.
Moody verwies auch auf andere ähnliche Abkommen wie die Trans-Pacific-Partnership (TTP), die zwischen den USA und asiatischen Staaten getroffen wurden. Die Liste der Details, die im Zuge des TTP vom Handelsvertreter der Vereinigten Staaten als Handelshemnisse bemängelt wurde, ist bemerkenswert.
In der anschließenden Podiumsdiskussion bezeichnete Bitkom-Sprecher Joachim Bühler TTIP als Chance für alle Länder, einen fairen Codex für den Handel mit digitalen Gütern zu bekommen. Bühler kritisierte zwar die Geheimverhandlungen und die mangelnde Transparenz, hielt es aber für unnötig, dass jeder auf jedes Dokument schauen müsse. Weil dort auch Firmengeheimnisse und Fragen des Datenschutzes zur Sprache kämen, sei ein Expertendialog angemessener. In jedem Falle gebe es die riesige Chance, das Abkommen zu verbessern.
Bruno Kramm, Kandidat der Piratenpartei für die anstehende Europawahl, hielt TTIP für überflüssig. In einer Zeit, in der die klassische Industrie einen großen Wandel erfahre, sei ein derart langfristiges Abkommen anachronistisch. Vollkommen inakzeptabel seien die Geheimverhandlungen. Hier müsse eine "Open Source of Politics" eingeführt werden. Abseits des Podiums kritisierte eine Sprecherin von Campact den Sponsor Bertelsmann. Ole Wintermann von Bertelsmanns Blogger-Plattform Future Challenges verteidigte die finanzielle Unterstützung. Alle Interessierten müssten eine konstruktive Diskussion führen können, keine Konfrontation.
Auch James Love von Knowledge Ecology International bezeichnete TTIP als schädliches Abkommen. Er unterschied zwischen den Abkommen wie TTIP und ACTA oder dem WIPO Broadcasting Treaty, die Patent- und Copyright-Ansprüche oder DRM-Regeln ausweiten und Abkommen wie dem von ihm entwickelten Vorschlag zur Sicherung öffentlicher Güter. Hier habe jeder Staat die Möglichkeit, eigene bindende Verpflichtungen einzugehen, was er für schützenswertes (Kultur–)Gut halte. Bezogen auf die USA kritisierte Love das enge Geflecht von Verhandlungsführern wie US-Patentamt, Handelsvertreter der USA, US Copyright Office und dem Weißen Haus. Praktisch sei jede Verhandlung über Handelsabkommen eine Art Drehtür, mit der die Lobbyorganisationen der Industrie in den Verhandlungsprozess eingeschleust würden. (anw)