Amazon ist keine Firma mit dem Satan als CEO

Man könnte meinen, dass Amazon gegen die Genfer Konvention verstoßen hätte oder heimlich Atomwaffentests vornehmen würde. Wie eine Tsunamiewelle ergoss sich der Aufschrei der Empörung nach der ARD-Dokumentation "Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon" über Deutschland. "Leute, kommt mal wieder runter!" meint heise-resale-Kolumnist Damian Sicking.

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Von
  • Damian Sicking

Lieber Amazon-Boykottierer Christopher Schroer, Chef des Buchverlags Ch. Schroer GmbH in Lindlar,

der Dokumentation "Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon" am vergangenen Mittwochabend in der ARD war neben dem Papst-Rücktritt und dem Pferdefleischskandal der Aufreger der Woche. Der TV-Beitrag dauerte nur knapp 30 Minuten, aber die Zeit reichte, um Amazon einen riesigen Imageschaden zuzufügen. Und die Chancen stehen gut, dass ein großer betriebswirtschaftlicher Schaden folgen wird. Denn kaum war der Film gesendet – oder fing es nicht sogar schon vor der Ausstrahlung an? – da ergoss sich eine tsunamiartige Flutwelle der Empörung über unser Land. Es mögen Tausende von Menschen gewesen sein, die über Facebook, Twitter und andere Kanäle der Welt mitteilten, dass sie sofort ihr Amazon-Kundenkonto auflösen und nie, nie wieder bei Amazon einkaufen würden. Gerne wurde auch gleich die Allgemeinheit zum Boykott aufgerufen. Inzwischen ist sogar die große Politik aufgeschreckt: So verlangt Bundesministerin Ursula von der Leyen von Amazon volle Aufklärung und droht schon mal mit Lizenzentzug (wobei mir nicht ganz klar ist, von welcher Lizenz hier die Rede ist).

Lieber Herr Schroer, Sie haben die ARD-Sendung ebenfalls gesehen und teilen die Empörung vieler anderer. Aber Sie haben Ihrer Wut nicht einfach nur bei Facebook Ausdruck verschafft, sondern haben einen Brief geschrieben und zwar an keinen Geringeren als Amazon-Chef Jeff Bezos. Dieser Brief ist auf der Homepage Ihres Verlages zu lesen und trägt die Überschrift "Adieu Amazon". Da jeder ihn lesen kann, brauche ich ihn hier nicht ausführlich zu zitieren.

Entscheidend ist, dass Sie ab sofort sämtliche Geschäftsbeziehungen zu dem weltgrößten Onlinehändler kappen, sowohl als Zulieferer (die Produkte Ihres Hauses sind bei Amazon erhältlich) als auch als Kunde. Damit ist jetzt Schluss – oder jedenfalls soll bald Schluss sein, denn während ich diesen Text schreibe, kann ich Bücher aus Ihrem Verlag noch immer bei Amazon (vor-) bestellen; dauert vermutlich, bis so etwas umgesetzt wird. Egal. Jedenfalls hat die ARD-Sendung über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern bei Amazon "das Fass zum Überlaufen" gebracht, wie Sie an Bezos schreiben. Mit anderen Worten: Das Fass war vorher schon ziemlich voll. Und tatsächlich beschreiben Sie recht ausführlich, wie Sie als kleiner Buchverlag von Amazon geknebelt und zu Zugeständnissen genötigt worden seien, um Ihre Produkte dort anbieten zu dürfen.

Lieber Herr Schroer, ich kann Ihren Frust verstehen. Irgendwann ist es einfach genug. Dann hat man die Nase voll. Dann muss man Schluss machen, schon allein um seinen inneren Frieden wieder zu finden. Ich bin sicher, dass Sie damit vielen Amazon-Zulieferern aus der Seele gesprochen haben, die schon lange ihre Fäuste in den Hosentaschen ballen, weil sie sich von Amazon ausgenommen fühlen. (Im IT-Bereich hatte diese Rolle des Ausquetschers in der Vergangenheit traditionell das Unternehmen Media-Saturn-Holding, doch wie mir Hersteller erzählen, hat Amazon in dieser Hinsicht schnell dazugelernt.) Wie gesagt, lieber Herr Schroer, ich kann Ihren Frust verstehen. Einerseits.

Andererseits bin ich aber auch ein wenig verwundert. Sie schreiben wörtlich in Ihrem Brief an Bezos: "Wirtschaftlich trägt sich Ihr Geschäftsmodell für uns nicht. Hat es übrigens noch nie." Da frage ich mich schon, warum Sie dann überhaupt mit Amazon zusammengearbeitet haben. Wenn Sie schon in der Vergangenheit keinen Nutzen aus der Geschäftspartnerschaft gezogen haben, warum haben Sie als kühl rechnender Kaufmann dann nicht schon viel früher die Reißleine gezogen?

Wie gesagt: Ich kenne einige Hersteller, die Amazon nicht wirklich in herzlicher Zuneigung verbunden sind. Sie machen trotzdem weiter. Warum? Weil die Alternative offenbar noch schlechter ist. Es wird ja niemand gezwungen, seine Ware bei Amazon zu verkaufen. Dass es so viele tun, legt die Vermutung nahe, dass der Nutzen doch höher ist als der Preis, den man dafür zahlen muss.

Und dass die großen Unternehmen ihre Macht ausspielen, wo und soweit es nur geht – hey, Herr Schroer, das kann Sie doch nicht überraschen! Wenn Sie jetzt die Konsequenz daraus ziehen und erklären, dass Sie da nicht mehr mitmachen wollen, dann ist das völlig okay und aller Ehren wert. Wie heißt es: "Wer die Hitze nicht aushält, sollte nicht in der Küche arbeiten."

Damit wir uns hier nicht falsch verstehen. Auch ich habe die ARD-Sendung gesehen und glaube nicht eigens betonen zu müssen, dass die Missstände dringend abgeschafft werden müssen. Aber wenn man dem öffentlichen Aufschrei folgt, dann gewinnt man den Eindruck, dass Amazon mindestens gegen die Genfer Konvention verstoßen hätte oder heimlich Atomwaffentests vornehmen würde und dass der Mann an der Spitze des Unternehmens nicht Jeff Bezos, sondern Satan heiße.

Ich halte es hier mit meinem Kollegen Hans Hoff, der am 15. Februar in der Printausgabe des Handelsblatts schrieb, dass die Autoren des ARD-Beitrags "die ganz große Alarmismus-Keule aus der Tasche" geholt hätten. Man könnte, so Hoff weiter, den Film auch so zusammenfassen: "Der Untergang des Abendlandes steht unmittelbar bevor, und Amazon ist schuld daran."

Was ich mich ebenfalls an dieser Stelle frage, lieber Herr Schroer: Wo waren eigentlich alle diejenigen, die jetzt zum Amazon-Boykott aufrufen, als die miserablen Arbeitsbedingungen beim chinesischen Zulieferer Foxconn bekannt wurden, der ja unter anderem für Apple produziert? Wer hat da voller Abscheu gesagt "Apple? Kommt mir nicht mehr ins Haus!"? Da frage ich mich schon: Sind schlechte Arbeitsbedingungen in einem entfernten Land weniger schlimm als solche vor der eigenen Haustür? Da ist schon auch ein Stückchen Gedankenlosigkeit oder Scheinheiligkeit am Werk, will mir scheinen.

Lieber Herr Schroer, lassen Sie mich abschließend betonen, dass ich absoluten Respekt für Ihre Entscheidung habe, Amazon den Rücken zu kehren. Das ist ja das Wunderbare an unserer Marktwirtschaft: Niemand MUSS Amazon beliefern, niemand MUSS bei Amazon kaufen. Oder bei irgendeiner anderen Firma. Die wirksamste Methode, gegen Zustände zu protestieren, die einem ein Dorn im Auge sind, oder gegen Missstände in einem Unternehmen anzukämpfen, besteht darin, diese Firma und ihre Produkte in Zukunft zu meiden. Vor diesem Hintergrund bin ich ja mal gespannt darauf, wie viele Amazon-Kunden ihre Boykottandrohung in den kommenden Monaten konsequent umsetzen werden. Im vergangenen Jahr hat Amazon hier in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt – in diesem Jahr müsste es deutlich weniger werden.Wetten würde ich aber nicht darauf...

Beste Grüße!

Damian Sicking

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