c't 23/2021
S. 3
Standpunkt

Denken statt suchen

Manchmal passiert es, dass ich mich versurfe. Ein unbedachter Klick, irgendwie falsch abgebogen und ich finde mich auf einer hoch spannenden Website wieder. So interessant die Seite sein mag - das Thema ist gerade jetzt nicht meins, also klicke ich wieder weg. Die Seite lässt sich ja jederzeit erneut aufrufen. Schließlich weiß ich, wie ich dort hingekommen bin. Und das Internet vergisst bekanntlich nichts.

Das Internet vergisst nichts? Für peinliche Enthüllungen und kompromittierende Fotos mag das stimmen. Aber wenn ich später genau diese eine Website suche, ist sie nicht mehr da. Dabei habe ich sie genau vor Augen: einfach alles, was man zum Thema wissen muss, samt toller Schaubilder, topaktuell und perfekt strukturiert.

Mit jeder Suche verbrauche ich so viel Energie, wie zum Aufbrühen einer Tasse Tee nötig wäre. Das hat jedenfalls der Physiker Alexander David Wissner-Gross vor 12 Jahren mal so ausgerechnet. Die Wahrheit ist viel komplizierter als diese griffige Formel (siehe S. 44) - egal, ich muss diese Seite wiederfinden. Ich muss einfach. Doch sie ist weg.

Geht das nur mir so? Eine kurze Umfrage im Bekanntenkreis ergibt: Ein Freund arbeitet mit Lesezeichen, hat aber den Überblick verloren. Eine Freundin sammelt URLs in Textdokumenten, die andere arbeitet mit Screenshots. Kollegen, die ihren Cache spätestens beim Beenden des Browsers löschen, melden zerknirscht herbe URL-Verluste. Sorglosere Surfer berichten davon, ab und an verzweifelt den Browsercache zu durchwühlen. Es gibt sogar ein Browser-Add-on, das einmal besuchte, aber längst wieder verlassene Webseiten durchforstet.

Falls es am Ende gelingt, die scheinbar verschwundene Website wiederzufinden, stelle ich meist fest, dass die Inhalte ein paar Jahre alt sind und auch nicht ganz so gut strukturiert, wie ich es in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich hätte es ebenso viel Erkenntnisgewinn gebracht, sich eine Tasse Tee zu kochen und in Ruhe über das Thema nachzudenken.

Dorothee Wiegand

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