c't 10/2022
S. 38
Aktuell
IT-Fachkräfte

Nichts wie weg!

Russische IT-Fachkräfte auf der Suche nach neuen Jobs

Zehntausende IT-Fachleute haben Russland verlassen, um sich im Ausland einen Job zu suchen. Bereits im März gab es eine erste Welle an Ausreisen, noch im April könnten laut einem russischen Branchenverband weitere 100.000 IT-Experten dem Land den Rücken kehren. Manche Zielländer werben die gut ausgebildeten Spezialisten an – andere befürchten Sicherheitsrisiken.

Von Dorothee Wiegand

Am 21. März meldete die Russian Association of Electronic Communications (RAEC), dass mehr als 50.000 IT-Fachkräfte aus Russland ausgereist seien. Auf einer Sitzung des IT-Ausschusses der Staatsduma zum Thema „Weiterentwicklung der IT-Branche unter Sanktionen“ berichtete RAEC-Chef Sergei Plugotarenko sogar von 70.000 Personen, die auf der Suche nach einem neuen Job das Land bereits verlassen hätten.

Um weitere Abwanderung zu verhindern, hatte der russische Präsident die Regierung angewiesen, Fachkräfte in der IT-Branche bis Ende 2024 von der Einkommensteuer zu befreien. Auch die Wehrpflicht ist für IT-Fachleute in Russland vorübergehend aufgehoben. Günstige Kredite für IT-Unternehmen sollen den IT-Jobmarkt stützen.

Die Website des russischen Verbands für elektronische Kommunikation RAEC (im Bild die deutsche Übersetzung von Google) spricht explizit von einem „Brain Drain“ bei IT-Fachkräften.
Die Website des russischen Verbands für elektronische Kommunikation RAEC (im Bild die deutsche Übersetzung von Google) spricht explizit von einem „Brain Drain“ bei IT-Fachkräften.

Doch laut Plugotarenko ist der Abwanderungstrend ungebrochen. Lediglich die hohen Preise für Flugtickets hielten viele IT-Talente noch davon ab, ins Ausland zu gehen. Bei dieser Prognose stützt er sich auf eine Ende März veröffentlichte Umfrage des russischen IT-Blogs Habr (bis 2018: „Habrahabr“). An der Umfrage nahmen knapp 3000 Personen teil, laut Habr vor allem Entwickler, Administratoren, DevOps und Tester zwischen 25 und 40 Jahren.

Sieben Prozent von ihnen berichteten von Gehaltskürzungen oder -verzögerungen. Vier Prozent gaben an, aufgrund von Stellenabbau oder Firmenschließungen entlassen worden zu sein. Jeder dritte Befragte berichtete, dass sein Unternehmen weniger oder gar keine Neueinstellungen plane, und 16 Prozent der Umfrageteilnehmer beschäftigte die Sorge, dass ihr Unternehmen in diesem Jahr schließen oder zumindest deutlich weniger Umsatz erzielen könnte. Jeder dritte russische IT-Spezialist sucht der Umfrage zufolge inzwischen einen Job in einem Unternehmen, das Arbeitsplätze außerhalb von Russland anbietet, und jeder zweite plant, eine Fremdsprache zu erlernen.

Firmen-Exodus

Es sind nicht nur Einzelpersonen, die das Land als Folge des Kriegs in der Ukraine und der damit verbundenen Sanktionen gegenüber Russland verlassen. Ebenso schließen viele Firmen ihre russischen Niederlassungen und verlagern deren Geschäfte und Arbeitsplätze in andere Länder. So haben sich etliche europäische und US-amerikanische Unternehmen inzwischen vollständig aus Russland zurückgezogen; andere schränkten die Geschäfte ein, leisten aber weiterhin Support für Bestandskunden. Auch SAP ging anfangs so vor, was dazu führte, dass sich die Belegschaft öffentlich kritisch äußerte. Mitte März hatte dann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj explizit Microsoft, Oracle und SAP aufgefordert, sämtliche Geschäftsaktivitäten in Russland zu beenden. Kurz darauf entschied man sich bei SAP, nicht nur das Neugeschäft, sondern auch die Clouddienste einzustellen.

Auch die Deutsche Telekom verhielt sich zunächst zögerlich. Nachdem der Gesamtbetriebsrat den vollständigen Rückzug aus Russland forderte, gab die Telekom schließlich bekannt, alle dortigen Aktivitäten einzustellen. Das Unternehmen hatte in St. Petersburg und an zwei anderen Standorten rund 2000 Entwickler beschäftigt, denen es inzwischen Arbeitsplätze außerhalb von Russland angeboten hat.

Neue Ziele

Die IT-Fachleute reisen in unterschiedliche Länder aus. Bei denjenigen, die ein EU-Visum haben, stehen die EU-Mitgliedsstaaten Polen, Lettland und Litauen hoch im Kurs. Zu den Ländern, in die russische Staatsbürger ohne Visum einreisen dürfen, gehören Armenien und Georgien sowie die früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien: Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kasachstan. Sie sind unter anderem als Ziel beliebt, weil dort zum Teil noch Russisch gesprochen wird. Auch die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate stehen auf der Wunschliste der Auswanderer.

Einige Länder zeigen sich interessiert an den russischen IT-Experten, die als überdurchschnittlich gut ausgebildet gelten. So hat etwa Usbekistan den Zugang zu Arbeitsvisa und Aufenthaltsbewilligungen für die meist jungen Talente erleichtert. An anderen Orten überwögen das Misstrauen gegenüber den IT-Spezialisten aus Russland und die Angst vor Spionage, berichtet das Nachrichtenportal des RedaktionsNetzwerkes Deutschland. Es zitiert den litauischen Journalisten und Politikexperten Marius Laurinavicius, der vor der Gefahr warnt, „Teile des kriminellen Systems aus Russland zu importieren“. (dwi@ct.de)

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