MIT Technology Review 5/2021
S. 106
Fundamente
Der Futurist
Illustration: Marei Stade

Pandemie-Party

Der Futurist

David erkannte Andi schon von Weitem, trotz der Maske. Er wartete in der Schlange vor dem Katharina-Witt-Eisstadion, das in nur einer Woche zum Impfzentrum umfunktioniert worden war.

„Hey, hast du etwa auch so schnell einen Termin bekommen?“

Andi nickte: „Überhaupt kein Problem.“

Nur drei Tage nach der Identifikation des Flavivirus, das sich von Afrika aus rasend schnell in der ganzen Welt verbreitete, hatten Biontech und Curevac mit der Produktion von mRNA-Impfstoffen gegen „Flavid-21“ begonnen. Vier Wochen später hatte die EMA die Vakzine zugelassen.

„Ich mache mir nur Sorgen um meine Mutter“, sagte Andi. „Sie ist bei den Klardenkern. Dabei ist sie Risikogruppe.“

David nickte verständnisvoll. Seine Eltern waren auch Impfskeptiker. Aber sie hatten Flavid bereits gehabt. Zwei Wochen hatten sie im Bett gelegen, dann war der Spuk vorbei. Hoffentlich hatten sie kein Long Flavid.

Auf einem Bildschirm vor dem Impfzentrum liefen Nachrichten. Die 7-Tage-Inzidenz hatte bereits die 500er-Marke gerissen, der R-Wert lag bei 3,02 – trotz Maskenpflicht, Kontakt- und Ausgangssperre. Und Brasiliens Präsident Bolsonaro sagte: „Ich hatte Flavid und fühle mich großartig!“

Sie wurden in die Kabinen geleitet. „Gute Impfung“, wünschte David Andi. Dann bekam er schon die Spritze in den Oberarm. „Bitte schonen Sie sich“, sagte die Ärztin. „Es können Nebenwirkungen auftreten.“

Am Tag darauf klingelte sein Handy. Es war seine Mutter.

„Hast du dich etwa impfen lassen?“

Er hatte keine Lust, sich schon wieder auf eine Diskussion mit ihr über die Impfung einzulassen. Sein Arm war dick und tat weh und er hatte Kopfschmerzen.

„David, das Virus ist nicht gefährlicher als eine Grippe. Dein Vater und ich haben es doch auch überstanden.“

„Mama, bitte …“

„Hast du schon den Artikel gelesen, den ich dir geschickt habe? Von diesem afrikanischen Arzt? Er sagt, dass das Virus sogar gesund ist.“

„Mhm.“

„Er hat recht! Der Bluthochdruck deines Vaters – er ist weg. Genauso wie mein Diabetes!“

David horchte auf. „Was?“

„Ja, Doktor Schilling hat uns gefragt, in welchen Jungbrunnen wir gesprungen sind. Der kann sich das überhaupt nicht erklären.“

Nach und nach stellte sich heraus, dass seine Mutter recht hatte. Flavid-Genesene waren nach der Erkrankung gesünder als zuvor. Demenzkranke erinnerten sich wieder, Diabetiker konnten wieder Zucker essen, Hypertoniker brauchten keine Medikamente mehr – die positiven Effekte waren allumfassend. So etwas habe er noch nie erlebt, sagte Deutschlands Top-Virologe Christian Drosten. Flavi sei das erste Virus, das seinem Wirt nicht schade, sondern ihn stärke. Wie es das tue, sei noch völlig unklar.

Das Flavivirus wurde in Bonavirus umbenannt. Die Stiko widerrief ihre Impfempfehlung und empfahl nun stattdessen allen Personen ab 18 Jahren, sich infizieren zu lassen, allen voran die Hochrisikogruppen. Die Ministerpräsidenten der Länder überschlugen sich darin, Bona-Partys zu veranstalten, damit die Inzidenzen stiegen. Getrübt wurde die Pandemie-Party nur durch die Furcht vor der Herdenimmunität, die schon bei 80 Prozent Durchseuchung erreicht sein könnte.

Und David? Der ärgerte sich, dass er sich hatte impfen lassen. Nun war er immun gegen das Bonavirus und würde von den Gesundheitseffekten nicht profitieren. Die Ärzte machten ihm nicht viel Mut: Die Immunität würde mindestens sechs Monate lang anhalten.

Davids Telefon klingelte, es war Andi.

„Schöne Scheiße mit der Impfung, oder?“, sagte er.

„Allerdings.“

„David, ich hab die Lösung!“

„Ja?“

„Hast du von der neuen indischen Variante gehört? Gegen sie wirkt der Impfstoff nicht! Ich hab uns eben zwei Tickets nach Mumbai gebucht! Auf zur Bona-Party!“ Jens Lubbadeh