MIT Technology Review 7/2022
S. 3
Editorial
, Foto: Ricardo Wiesinger
Foto: Ricardo Wiesinger

Liebe Leserinnen und Leser,

dass die Weltwirtschaft ein hoch fragiles Konstrukt ist, zeigten die vergangenen zwei Jahre deutlich. Erst ein Handelskonflikt mit China, dann die Pandemie – und schließlich ein Krieg. An allen Ecken und Enden brachen Lieferketten zusammen, sodass Produkte monatelang nicht lieferbar waren und es zum Teil bis heute nicht sind. Als wäre das nicht genug, hat Russlands Krieg eine Energiekrise in Europa ausgelöst, die eine historisch hohe Inflationsrate erzeugt.

All diese Krisen beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, aber das Ausmaß hat eine neue Qualität. Der Begriff „Polykrise“ bringt diesen Umstand auf den Punkt: In einer Welt, die so verworren und vernetzt ist wie unsere, können sich lokale Erschütterungen global auswirken und richten mehr an als die Summe der einzelnen Teile.

Braucht es also weniger Globalisierung, um die globalen Krisen abzuschwächen? Unter dem Schlagwort „Deglobalisierung“ wird genau das diskutiert: Angesichts brüchiger Lieferketten wäre es klug, Produktionen von wichtigen Vorprodukten oder die Aufbereitung von Rohstoffen wieder in die Heimatländer („Re-Shoring“) oder zumindest in „befreundete“ Staaten („Friend-Shoring“) zu verlagern – dann wäre man weniger abhängig. Doch Experten widersprechen: „Autarkie ist einfach Quatsch. Ein Land muss nicht alles selbst machen können“, sagt Ökonom Benjamin Moll. Nicht, ob eine Volkswirtschaft mit anderen kooperieren sollte, sei die entscheidende Frage, sondern wie krisenfest die Zusammenarbeit ist (Seite 14).

Ein Beispiel ist die Produktion von Computerchips: Zwar versuchen die USA und Europa, der asiatischen Dominanz bei der Chipfertigung mit Milliardeninvestitionen etwas entgegenzusetzen. Doch die globale Arbeitsteilung wieder zurückzufahren, ist kaum möglich (Seite 26).

Sowohl in der Solar- und Windbranche (Seite 32), bei der Fertigung von Batterien (Seite 36) oder auch in der Pharmaindustrie (Seite 42) zeigt sich: Nach 40 Jahren Turbo-Kapitalismus, in dem Effizienz und Profitmaximierung die zentralen Paradigmen waren, lässt sich das Rad der Geschichte nicht einfach zurückdrehen. Die gute Nachricht: Wenn wir die Globalisierung neu gestalten (Seite 38) und Resilienz und Sicherheit stärker in den Mittelpunkt rücken, ist auch in Deutschland und Europa in Zukunft eine Hightech-Produktion möglich.

Ihr

Luca Caracciolo

@papierjunge