MIT Technology Review 7/2022
S. 48
Titel
Robotik

Die neuen Nähmaschinen

Roboter lernen immer besser, mit Textilien umzugehen. Das könnte einen ganzen Industriezweig, der in Billiglohnländer ausgelagert wurde, zurück nach Europa holen.

Thomas Brandstetter

Das Label „Made in Bangladesch“ in einem Kleidungsstück ist heute ein Synonym für Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit – von seinem Transport rund um den Globus einmal ganz abgesehen. Um Kleidung zu ähnlich günstigen Preisen in Europa herzustellen, wäre jedoch mehr Automatisierung nötig. Roboterarme schweißen in Windeseile Autokarosserien zusammen oder fertigen vollautomatisch und mit höchster Präzision Computerchips. Also warum lassen wir unsere Kleidung nicht ebenfalls von Maschinen an unseren eigenen Wirtschaftsstandorten produzieren?

Die Antwort ist ernüchternd: Roboter können zwar Autos montieren, aber keine Kleider nähen. Zumindest nicht nach dem Vorbild menschlicher Textilarbeitender, die Stoffe halten, bewegen und geschickt durch Nähmaschinen führen. Moderne Produktionsroboter kommen aus einer Welt der starren Objekte, die sie kalkulierbar greifen und manipulieren können. „Textilien ändern aber ständig ihre Form, insbesondere unter dem Einfluss der Schwerkraft“, erklärt Professor Andreas Kugi von der TU Wien. Wo ein Mensch sofort erkennt, wie er ein beliebiges Stück Stoff halten oder gegebenenfalls glatt streichen muss, damit es keine Falten wirft, sind Roboter heutzutage noch überfordert. Diese scheinbar einfache Tätigkeit ist ein hochkomplexes Zusammenspiel aus visueller Erkennung, Erfahrung im Umgang mit dem Material und Feinfühligkeit der Hände.