Die Krise kurz erklärt

Was Sie schon über die Krise wissen wollen, aber nie zu fragen wagten. Die etwas anderen FAQ zur kapitalistischen Dauerkrise

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Haben Sie sich in der Dauerkrise schon häuslich eingerichtet? Können Sie noch den Überblick behalten, bei all den über uns zusammenbrechenden Schuldenbergen? Für alle, die endlich im Krisendickicht durchblicken wollen, hier nun ein ganz besonderer Service: Werden Sie in wenigen Minuten zum Krisenexperten und Bescheidwisser, mit den großen FAQ zur Krise - diesmal mit verbesserter Kapitalismuskritikformel! In wenigen Antworten auf selbst erfundene Fragen werden die Krisenursachen benannt und die häufigsten Krisenmythen entlarvt. Der Clou dabei: Am Ende einer jeden Antwort finden sich Links zu Texten, die weitergehende Infos und Hintergründe zu den entsprechenden Themenkomplexen bieten. Soviel Krise war noch nie - jetzt neu mit krisenbedingter Zufriedenheitsgarantie!

Überall türmen sich gigantische Schuldenberge auf. Wer ist nun schuld an der gegenwärtigen Schuldenkrise? Die faulen Südeuropäer oder unsere gierigen Banker?

Statt nach "Schuldigen" müssen wir nach den systemischen Ursachen der Verschuldungsdynamik suchen. Diese gigantischen Schuldenberge sind in den vergangenen Jahrzehnten entstanden, weil sie notwendig waren, um den Kapitalismus überhaupt funktionsfähig zu erhalten. Ohne Schuldenmacherei zerbricht das System an sich selbst. Private und/oder staatliche Verschuldung stellt im zunehmenden Maße eine Systemvoraussetzung dar, ohne die der Kapitalismus nicht mehr reproduktionsfähig ist.

Wir müssen uns nur vergegenwärtigen, dass die Kreditaufnahme eigentlich einen Wechsel auf die Zukunft darstellt, bei dem Finanzmittel im Hier und Jetzt zur Verfügung gestellt werden, die erst später vom Kreditnehmer erwirtschaftet und zurückgezahlt werden müssen. Und diese Kredite werden ja für Investitionen, Bautätigkeit oder Konsum aufgewendet. Somit schafft die Verschuldung eine zusätzliche, kreditfinanzierte Nachfrage, die stimulierend auf die Wirtschaft wirkt.

Im Endeffekt ist es egal, ob der Staat, die private Wirtschaft oder die Konsumenten sich verschulden: Gemeinhin stimuliert diese kreditgenerierte Nachfrage die Konjunktur und führt zu weiterem Wirtschaftswachstum. Ob nun der amerikanische Staat neue Marschflugkörper ordert, in Spanien zur Spekulationszwecken neue Ferienhäuser gebaut oder in Osteuropa Konsumentenkredite vergeben werden: All diese Aktionen generieren Nachfrage, schaffen Arbeitsplätze und beleben die entsprechenden Industriezweige. Wenn die Verschuldungsdynamik stark genug ist, dann entsteht eine sogenannte Defizitkonjunktur. Hierbei handelt es sich um einen Wirtschaftsaufschwung, der durch das Anhäufen von Schulden, also von Defiziten, getragen wird.

Es waren gerade diese Defizitkonjunkturen, die in der Epoche vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in 2008 als maßgeblicher Motor der Weltwirtschaft fungierten. Hierbei handelt es sich um einen langfristigen, graduell an Intensität gewinnenden Prozess, der zeitgleich mit der Durchsetzung des Neoliberalismus und dem Aufstieg des Finanzsektors in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte. Diese mit der Expansion der Finanzmärkte einhergehende Verschuldungsdynamik ging mit der Ausbildung von gigantischen Spekulationsblasen auf dem Finanzsektor einher, die ebenfalls - bis zu ihrem Zusammenbruch - stimulierend auf die Wirtschaft wirkten. Hier sind insbesondere die zwischen 2007 und 2008 geplatzten Immobilienblasen zu nennen, die ja vielfältige belebende Effekte auf die Industrie zeitigten, da sie ja mit realer Bautätigkeit einhergingen.

Es verschuldeten sich aber nicht alle Länder gleichmäßig: Die stärksten Defizitkonjunkturen - mitsamt den einhergehenden Schuldenbergen - bildeten mit weitem Abstand die USA aus, gefolgt von Südeuropa, Osteuropa, Irland und Großbritannien. Diese Länder und Regionen wiesen immer weiter ansteigende Leistungsblianz- und/oder Handelsdefizite aus, während sie zugleich eine fortschreitende Deindustrialisierung erfuhren.

Daneben bildete sich in einem scharfen Verdrängungswettbewerb eine Reihe von Ländern aus, die enorme Handelsüberschüsse erwirtschaften konnten und weiterhin über einen nennenswerten Industriesektor verfügen. In diesem Zusammenhang müssen China, Deutschland, Japan oder Südkorea genannt werden. Diese Länder konnten vermittels ihrer Handelsüberschüsse von den Verschuldungsprozessen in den USA oder Südeuropa profitieren, ohne sich selber verschulden zu müssen. Die enormen globalen und europäischen "Ungleichgewichte" in den Handelsbilanzen sind genau auf diese Entwicklung zurückzuführen.

Der Kapitalismus als ein Weltsystem kann ohne diese Defizitkonjunkturen und die damit einhergehenden Ungleichgewichte nicht mehr funktionieren: Sobald die - private oder staatliche - kreditgenerierte Nachfrage wegbricht, setzt eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen.

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Wieso sollte der Kapitalismus, der als eine auf höchstmögliche Effizienz ausgelegte Wirtschaftsweise gilt, nicht mehr ohne Schuldenmacherei funktionieren? Was ist die Ursache dieser angeblichen Abhängigkeit des kapitalistischen Weltsystems vom Kredit?

Es ist gerade diese in den vergangenen Jahren immer weiter gesteigerte betriebswirtschaftliche Effizienz, die den Kapitalismus auf volkswirtschaftlicher Ebene in einen regelrechten Verschuldungszwang treibt. Das System ist zu produktiv, um weiterhin seine Reproduktion innerhalb seiner Produktionsverhältnisse ohne Defizitbildung aufrechterhalten zu können.

Frei nach Marx ließe sich zusammenfassen: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der Produktionsverhältnisse. Diese kapitalistische Systemkrise ist also tatsächlich eine Krise des Kapitals. Das Kapital muss hierbei als ein soziales Verhältnis, als ein Produktionsverhältnis begriffen werden: Der Unternehmer investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Maschinen, Arbeitskräfte und Rohstoffe, um in Fabriken hieraus neue Waren zu schaffen, die mit Gewinn auf dem Markt verkauft werden. Das hiernach vergrößerte Kapital wird in diesem uferlosen Verwertungsprozess des Kapitals reinvestiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser Prozess der Akkumulation oder Verwertung von Kapital funktioniert nicht mehr ohne die besagte Schuldenmacherei.

Um diese Diagnose vollauf verständlich zu machen, müssen die berühmten Widersprüche kurz dargelegt werden, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen. Neben dem bekannten Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit prägt das System noch eine weitere fundamentale Unvereinbarkeit, die einen permanenten Strukturwandel zur Folge hat.

Obwohl Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, strebt das Kapital zugleich danach, die Lohnarbeit möglichst weitgehend durch Rationalisierung aus dem Produktionsprozess zu verbannen: Es ist eine Art Wettlauf mit den Maschinen. Die Marktkonkurrenz zwingt die Unternehmer in allen Industriezweigen dazu, ihre Produktion dank wissenschaftlich-technischer Innovationen immer weiter zu rationalisieren, sodass die Beschäftigung in den Wirtschaftszweigen immer weiter fällt, die schon längere Zeit etabliert sind und deren Märkte schon erschlossen sind.

Der gleiche technische Fortschritt, der zum Arbeitsplatzabbau in den etablierten Industriezweigen führt, lässt aber auch neue Industriezweige entstehen. Schon immer gab es in der Geschichte des Kapitalismus einen Strukturwandel, bei dem alte Industrien verschwanden und neue hinzukamen, die wiederum Felder für Investitionen und Lohnarbeit eröffneten. Folglich ist die Geschichte des Kapitalismus durch eine Abfolge von Leitsektoren der Wirtschaft gekennzeichnet, die als Akkumulations-, Konjunktur-, und insbesondere Beschäftigungslokomotiven fungierten: Textilindustrie, Schwerindustrie, Chemie, Elektroindustrie, Fahrzeugbau.

Dieser Strukturwandel funktioniert aber mit dem Aufkommen der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik und Informationstechnologie nicht mehr. Die IT-Industrie schafft zwar Arbeitsplätze, aber ihre Technologien und Produkte erfahren eine gesamtwirtschaftliche Anwendung, bei der im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen weitaus mehr Arbeitsplätze verschwinden. Es findet ein Prozess des Abschmelzens der Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion statt: Immer weniger Arbeiter können in immer kürzerer Zeit immer mehr Waren herstellen.

Die avancierten kapitalistischen Gesellschaften gerieten folglich in die Krise der Arbeitsgesellschaft, die mit steigender Arbeitslosigkeit, allgemeiner Prekarisierung und/oder einem stagnierenden Lohnniveau einhergeht. Zugleich steigen mit dem technischen Niveau der Produktion die Aufwendungen für Infrastruktur, Bildung oder Produktionsinvestitionen, was wiederum die Massennachfrage und/oder die Unternehmensgewinne belastet. Die gesamtgesellschaftlich notwendigen Investitionen zur Aufrechterhaltung der Akkumulation von Kapital wachsen immer weiter an, wodurch das Verhältnis zwischen profitabler Kapitalverwertung und den hierfür notwendigen Aufwendungen sich zur Letzteren verschiebt.

Die wahren Krisenursachen liegen also konträr zu der populistischen Parole, wonach die Bevölkerung der Schuldenländer Europas oder der USA "über ihre Verhältnisse" gelebt habe. Es verhält sich gerade umgekehrt: Der Kapitalismus hat ein derartig hohes Produktivitätsniveau erreicht, dass er nur noch durch ein "Leben über den Verhältnissen", also durch Schuldenmacherei, eine Zeit lang eine Art Zombieleben führen kann - bis zum großen Crash.

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