Text anonymisiert, Leute verwirrt
Der "alternative Lebensentwurf" einer ALG-II-Bezieherin. Teil 1: Askese und Freiwilligkeiten
Die Lebensstilbeschreibung einer ALG-II-Bezieherin, die unlängst in der Zeitung "Die Welt" unter dem Titel "Warum sich jemand bewusst für Hartz IV entscheidet" erschien, sorgt für Diskussionen. Nicht nur weil die Idee an sich polarisiert, sondern auch, weil einmal zu viel anonymisiert wurde.
Das spartanische Luxusleben
Der Artikel über Leben und Einstellungen einer ALG-II-Empfängerin wirkt fast wie aus dem Lehrbuch derjenigen entnommen, die ALG II für mehr als ausreichend halten. Gleichzeitig unterstreicht er auch noch einmal den Aspekt des "faulen ALG II-Beziehers, der mehr Zeit dafür investiert, eben keine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, als sich aus eigener Kraft aus dem ALG-II-Leben zu verabschieden".
Dokumentiert wird die Geschichte einer 42jährigen Frau mit dem fiktiven Namen Susanne Müller. Trotz ALG-II-Bezuges führt sie eine Art spartanisches Luxusleben. Morgens gibt es ein Frühstück in einem Cafe, zur Kleidung gehören auch Kaschmirschals und Pullover von Thommy Hilfinger; iPhone und MacBook sind ebenfalls vorhanden. Ansonsten zeichnet sich das Leben durch freiwilligen Verzicht und Müßiggang aus. Das Foto vom fast leeren Kühlschrank, in dem sich neben Butter eine Zwiebel, eine Knochlauchknolle sowie drei Kartoffeln befinden, ist Sinnbild für die Gleichzeitigkeit von Askese und Luxus, wie ihn Susanne Müller zu genießen scheint.
Wer den Text liest, findet zunächst einmal einige sehr verwirrende Ansichten in Bezug auf den Begriff Luxus. Der Kaschmirschal wird genauso zum Zeichen für Luxus wie guter Tee, Zahnprophylaxe oder die Zeit, den Krähen, die Susanne M. füttert, zuzuschauen, auch der regelmäßige Besuch bei den entfernt lebenden Eltern oder der Friseurbesuch wird in den Kontext gestellt. Inwiefern der Besitz eines teuren Kleidungsstückes tatsächlich mit Freizeit oder Zahnprophylaxe gleichgesetzt werden sollte, bleibt offen.
Sprachliche Sonderheiten
Der Text, geschrieben von der Redakteurin Kathrin Spoerr, dokumentiert lediglich, er wertet nicht, wirkt zeitweilig wie eine nüchterne Dokumentation, dann wieder wie ein etwas ausgeschmückter Schüleraufsatz, bei dem größtenteils längere Sätze vermieden werden. "Susanne Müller ist 42 Jahre alt. Sie ist gesund. Sie ist intelligent. Sie hat Abitur. Sie hat einen Fachhochschulabschluss als Betriebswirtin", ist zu lesen. Oder: "Susanne wird erst wieder am Abend Hunger haben. Sie wird Bratkartoffeln mit Spiegelei machen. Sie isst gern Bratkartoffeln."
Der Verzicht auf Begriffe wie "zubereiten", das Abkürzen des Wortes gerne durch "gern" wirkt wie eine subtile Wertung des so nüchtern geschilderten Lebens, als würde hinter der vermeintlichen Neutralität im Text doch im Hinterkopf ein gewisses Denken stehen, das die Verfasserin dazu bringt, das Leben in oft betont kurzen Sätzen zu dokumentieren und Verben wie "machen" geradezu exzessiv zu nutzen. Bratkartoffeln mit Spiegelei werden genauso gemacht wie das tägliche Staubsaugen oder der Haushalt in regelmäßigen Abständen. Umso irritierender klingt dann der Satz: "Das Jobcenter ist freundlich zu Susanne, aber es foltert auch."
Der Begriff der Folter wird zwar umgangssprachlich ("Die reinste Folter") für etwas Unbequemes genutzt, doch da der Text sich größtenteils bemüht, neutral zu wirken, ist der Begriff hier, zumal er kein Zitat darstellt, sondern die Meinung der Redakteurin, eher fehl am Platze. Derartige sprachliche Sonderheiten ziehen sich durch den gesamten Text, der auch schon einmal das Verb "hartzen" verwendet.
Viel Arbeit zur Vermeidung der Arbeit
Susanne Müllers Lebensstil lässt sich allerdings nicht auf "bewusst für ALG II entschieden" reduzieren, denn sie hat ja letztendlich eine Maxime: "Ich will keine Erwerbstätigkeit aufnehmen." Ihr Leben ist dadurch keineswegs frei von Arbeit, nur wird diese nur teilweise durch Monetäres vergolten.
So verkauft Susanne Müller regelmäßig ihre Telekommunikationsgeräte, um sich durch den Erlös neue kaufen zu können. Hierfür investiert sie ebenso Zeit wie für das Mitnehmen von gefundenen Pfandflaschen (im Artikel wird darauf hingewiesen, dass Susanne Müller darauf Wert legt, dass sie keine Pfandflaschen bewusst sammelt, sondern diese findet und mitnimmt).
Die Verrringerung der Gefahr, bei einer Bewerbung berücksichtigt zu werden, ist ebenso zeitintensiv, denn Susanne Müller gibt sich Mühe, einerseits die Bedingungen des Jobcenters (Eigenbemühungen usw.) zu erfüllen, andererseits aber diese erfolgreich zu unterlaufen, indem sie in ihren Bewerbungen Rechtschreibfehler einbaut, die Anschreiben nicht mitschickt, bzw. besonderen Augenmerk auf nunmehr zehn Jahre lang andauernde Arbeitslosigkeit lenkt. Die Fortbildungskurse, die das Jobcenter ihr "anbietet", absolviert sie; wohlwissend, dass die nächsten Bewerbungen nicht erfolgreich sein werden.
Diese "Arbeit zur Vermeidung von Erwerbstätigkeit" wird in den Kommentaren entsprechend hart kommentiert bzw. scharf kritisiert. Eine 42jährige Betriebswirtin, die letztendlich nicht nur gesund, sondern auch intelligent zu sein scheint, dies jedoch letztendlich nur dafür nutzt, ihren eigenen Lebensentwurf durchzusetzen, indem sie erfolgreich eine Erwerbstätigkeit vermeidet und stattdessen auf Transferleistungen sowie einige Nebeneinkünfte setzt, weckt natürlich Emotionen.
Dies ist bei dem Artikel auch deshalb interessant, da Susanne Müllers Lebensgeschichte gleich mehrfach provoziert: Für die einen ist sie eine Schmarotzerin, die sich nur durch Cleverness von Reizfiguren wie Arno Dübel (den einst die Bild als "Deutschlands frechsten Arbeitslosen" titulierte und porträtierte) unterscheidet, für die anderen ist sie Verräterin an der ALG-II-Kritik, weil sie sich in der "ALG-II-Hängematte eingerichtet" hat und insofern den Apologeten dieser Idee als Vorzeigefrau dienen könnte.
Keine Entscheidung für ALG II
Doch der Text hat bereits eine Überschrift, die aufzeigt, dass zwar hier ein anderer Lebensentwurf, fernab der "Arbeit über alles"-Maxime, porträtiert wird, damit jedoch auch eine Entscheidung für ALG II impliziert wird. Der Satz: "Warum sich jemand bewusst fuer Hartz-IV entscheidet" ist nur zur Hälfte richtig, denn obgleich sich Susanne Müller zwar bewusst gegen Erwerbstätigkeit entscheidet, hat sie letztendlich außer ALG II wenig Alternativen.
Würde es beispielsweise eine entsprechend hohe Rente geben oder das Bedingungslose Grundeinkommen, so wäre es verwunderlich, wenn Frau Müller ihren Lebensentwurf nicht auch ohne die Einmischung des Jobcenters durchsetzen würde, schließlich fielen die nur zwangweise besuchten Fortbildungen ebenso weg wie die Bewerbungen, in denen subtil darauf hingewirkt werden muss, dass der Arbeitgeber sich nicht für sie entscheiden soll.
Schizophrene Ansichten
Geradezu schizophren wirkt Susanne Müller in ihren Ansichten bezüglich den ausländischen Mitbewohnern. So lässt sie sich zwar von einem türkischen Friseur die Haare schneiden, spricht jedoch gleichzeitig von Ausländern als "Fressfeinden", als Konkurrenz für sie, obgleich sie letztendlich ja von diesen nicht einmal zu befürchten hat, "dass sie ihr einen Arbeitsplatz wegnehmen könnten".
Doch die z.B. türkischen Arbeitssuchenden sollen gefälligst das türkische Sozialsystem ausnutzen, wird Susanne Müller zitiert, was beeindruckend zeigt, dass hier eine bisher als intelligent geschilderte Frau alten Ressentiments anheimfällt.
Freiwillige Askese
Zwar soll der Artikel lediglich einen alternativen Lebensentwurf darstellen, doch letztendlich irritiert er in vielerlei Weise. Er könnte - ähnlich solcher Ideen wie dem Monatsplan für den Kaffeesüchtigen (der lediglich 50 Euro für Ernährung beinhaltet) - in der Zukunft als Blaupause für die Möglichkeit, sich in ALG II bequem und gesund einzurichten, genutzt werden, das ist jetzt bereits absehbar. Gleichermaßen wird er als Beispiel für jene gelten, die sich mit all ihrer Cleverness der Erwerbstätigkeit entziehen.
Dabei ist dies letztendlich ein einzelner Lebensentwurf, der insbesondere auch deshalb funktioniert, weil es sich hier um eine gesunde Frau handelt. Schmerzmedikamente, Salben und Tinkturen oder Verbandsstoffe, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, aber durch ALG II abgegolten werden müssen, sind hierbei nicht berücksichtigt - der "Lebensentwurf" ist letztendlich also nur eine Momentaufnahme, die auch auf dem Prinzip Hoffnung basiert. Auch sind zwar am Schluss des Textes noch 62 Euro auf dem Konto, doch Aspekte wie Kontogebühren, unvermutete Ausgaben für Reparaturen oder Ersatz von Haushaltsgeräten, Bildung, Kultur... bleiben außen vor. Hier wird auch nicht näher nachgehakt.
Der gesamte Lebensentwurf ist insofern auch von dem Motto "Es wird schon gehen" geprägt, von der Hoffnung, dass das Jobcenter nicht merkt, dass die Bewerbungen von der 42jährigen gut ausgebildeten Frau nicht zu Sanktionen führen; dass keine unvermuteten Schicksalsschläge den Lebensentwurf in Frage stellen; dass keine zusätzlichen hohen Kosten entstehen. Die freiwillige Askese Susanne Müllers steht letztendlich auf tönernen Füßen.