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Als Muslime im Westen als schwul galten

15.06.2016 - Fabian Köhler

Ursprüngliches Bild: Rumi zeigt seine Liebe seinem Schüler Hussam al-Din Chelebi. Bild: gemeinfrei

Nach Orlando war für viele die Gleichung klar: Islam = homophob. Dabei hat die gleichgeschlechtliche Liebe in der islamischen Welt eine lange Tradition

Oberflächlich gesehen, gibt es viele Möglichkeiten, die Taten des Omar Mateen zu erklären: War er ein konservativer Waffennarr, der Menschen mit anderer Lebensweise so zum Schweigen brachte, wie es konservative Waffennarren eben tun? War er ein irrer Psychopath, der mit seiner eigenen sexuellen Identität nicht klar kam? Oder tötete Omar Mateen am Sonntag 49 Besucher eines schwulen Nachtclubs, einfach weil er Muslim war und Muslime eben keine Schwulen mögen?

Jede dieser Erklärungen ist zu kurz gegriffen und dennoch haben sich viele Medien für eine von ihnen entschieden: die letzte. Dass Muslime per se homophob sind, scheint sich in den Augen vieler nicht nur am Sonntag in Orlando einmal mehr bestätigt zu haben: Im Iran hängen die Körper von Homosexuellen an Baukränen, in Saudi-Arabien schlagen Religionswächter Schwulen die Köpfe ab und in Syrien stürzt der selbsternannte Islamische Staat Homosexuelle aus Hochhäusern.

Doch die Gleichung "Islam = homophob" ist allenfalls so wahr wie ihr Gegenteil. Denn so sehr Islamisten heute Homosexualität verteufeln, so selbstverständlich war gleichgeschlechtliche Liebe jahrhundertelang in der islamischen Welt. Und so sehr Homophobie heute aus westlicher Sicht als typisch islamisches Problem gilt, so neu ist das Phänomen in der islamischen Welt.

Ursprüngliches Bild:
Rumi zeigt seine Liebe seinem Schüler Hussam al-Din Chelebi. Bild: gemeinfrei

Keine Kultur hat die Homoerotik mehr zelebriert als die islamische

Vor allem ein Blick in die Geschichte islamischer Dichtkunst zeigt, wie unverklemmt Muslime jahrhundertelang mit der Liebe zum eigenen Geschlecht umgegangen sind. Jahrhundertelang zelebrierten islamische Lyriker in osmanischer, persischer und arabischer Sprache die Lust am und die Liebe zum gleichen Geschlecht. Wahrscheinlich dürfte keine andere Kultur eine solche Vielfalt an homoerotischer Literatur hervorgebracht haben wie die islamische.

Der Dichter Rumi, dessen Leben momentan mit Leonardo Di Caprio in der Hauptrolle von Hollywood verfilmt wird, schwelgte nicht nur in seinen Gedichte in homoerotischen Phantasien, er lebte diese auch - gesellschaftlich völlig akzeptiert - in seinem Privatleben aus. Voll mit Versen über gut gebaute Männerkörper sind auch die Werke des vielleicht berühmtesten persischen Dichters: Hafiz, jener Lyriker, der Johann Wolfgang von Goethe zum West-Östlichen Diwan inspirierte

Wenn heutige Islamisten vorgeben, sich in ihrer Homophobie auf die Zeit der ersten islamischen Kalifen zu berufen, sollten sie vielleicht erst einmal bei den Dichtern jener Zeit nachlesen. Einer der bekanntesten arabischen Dichter, Abu Nuwas, schrieb im 9. Jahrhundert über seine Geschlechtsgenossen:

Im Bade wird dir das sonst durch die Hosen Verborgene sichtbar. Auf zum Betrachten! Gucke mit nicht abgelenkten Augen! Du siehst einen Hintern, der einen Rücken von äußerster Schlankheit in den Schatten stellt. Sie flüstern sich gegenseitig: 'Gott ist groß' und 'Es gibt keinen Gott außer Allah' zu.

Abu Nuwas

Homosexualität war so selbstverständlich, dass es sie nicht gab

Für Rumi, Hafiz, Abu Nawas und hunderte andere Lyriker gehörten homoerotische Verse so selbstverständlich zu ihrer Dichtkunst, weil homosexuelle Beziehungen in der islamischen Welt des 8. bis 18. Jahrhunderts in einem Maße akzeptiert waren, von dem Mann im christlichen Abendland nur träumen konnte.

Während im Europa jener Zeit Homosexuelle auf Scheiterhaufen brannten und jede Literatur, die gegen die restriktive Sexualmoral der katholischen Kirche widersprach, auf den Index gesetzt wurde, erklärten islamische Gelehrte die Zuneigung zum eigenen Geschlecht zur natürlichen Begierde.

Anders als wie im Westen üblich, die Welt in Homosexuelle und Heterosexuelle einzuteilen, gingen sie davon aus, dass die Begierde des eigenen Geschlechts jedem Menschen innewohnt. Hinweise auf Diskriminierung von Homosexuellen sucht man in der islamischen Geschichte auch deshalb jahrhundertelang vergebens, weil es die Zweiteilung der Sexualität in Homo und Hetero schlichtweg nicht gab.

Ursprüngliches Bild:
Schāh Abbās I und ein Page, 1627, Louvre, Paris. Bild: gemeinfrei

Zwar verbot auch der Koran Analsex, strafrechtliche Konsequenzen hatte das allerdings in den seltensten Fällen zur Folge. Nicht zuletzt auch wegen der hohen verfahrenstechnischen Hürden, die das islamische Recht in solchen Fällen vorgab: Indizienprozesse gab es nicht. Stattdessen mussten mindestens vier männliche Augenzeugen den Geschlechtsakt bezeugen. Da diese außerdem oft einen gewissen gesellschaftlichen Status innehaben mussten und bei Falschaussage hohe Strafen drohten, waren in der Praxis Verurteilungen wegen Analsex nahezu ausgeschlossen. Steinigungen, wie sie heutige selbsternannte islamische Fundamentalisten fordern, hat es vor dem 18. Jahrhundert wahrscheinlich überhaupt nicht gegeben.

In Europa galten Muslime als schwul

In Europa rankten sich unterdessen schon damals allerlei Klischees um das Thema Islam und Homosexualität. Nur der Unterschied zu heutigen Feindbilder könnte größer nicht sein. Massenhaft brachten europäische Orientreisende Geschichten über sexuelle Lasterhaftigkeit mit zurück ins christlich-verklemmte Abendland. Der Muslim jener Tag galt im christlichen Europa nicht als homophob, sondern als freizügig, sexuell enthemmt und schwul.

Das alles ist freilich lange her. Mit der europäischen Kolonialarmee fand auch die homophobe Sexualmoral des Westens Einzug in die einst liberale islamische Welt. Und auch die Gegenbewegung zum Einfluss des Westens - der Islamismus des 19. und 20. Jahrhunderts - wandte sich gegen jene liberalen Gesellschaftsentwürfe, die über Jahrhunderte das Liebes- und Sexleben der islamischen Welt geprägt hatten.

Auch heute noch gehört Gruppenmasturbation mit den Kumpels zur Pubertät muslimischer Jungen

Der Einfluss von Islamismus und Kolonialismus geht in islamischen Gesellschaften so tief, dass vielen Muslimen ihre eigene Sexualtradition heute unangenehm ist. Von der sexuellen Vielfalt früherer Tage sind die meisten Muslime heute ebenso entfremdet wie ihre westlichen Gleichaltrigen. Homophobie vom skeptischen Blick bis hin zum staatlich legitimierten Mord gehören in der islamischen Welt heute zum Alltag. Im Sudan, Jemen und Iran, in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten droht Homosexuellen die Todesstrafe.

Und dennoch sind auch heute noch in der islamischen Welt Überbleibsel der vergangenen Zeiten spürbar. Auf den Straßen arabischer Städte laufen Männer noch immer Hand in Hand, sind Küsse selbstverständliches Begrüßungsritual. Wie groß wäre die soziale Ächtung oder die Prügel, würde ein deutscher pubertierender Junge seine Kumpel zum gegenseitigen Oralsex oder zur Gruppenmasturbation einladen. Für viele Heranwachsende in islamischen Ländern ist beides völlig selbstverständlich, ohne dass jemand auf die Idee käme, dies als "schwul" zu verurteilen.

Auch der Attentäter von Orlando soll regelmäßig in dem Schwulenclub verkehrt haben, in dem er am Sonntag 49 Menschen hinrichtete. Vielleicht tat er dies nicht obwohl, sondern gerade weil er Muslim war. Abwegig? Mit Sicherheit! Genauso abwegig, wie seine Taten allein mit seiner Religion erklären zu wollen.