Türkei: Kurdische Dörfer werden zwangsgeräumt

Militäroperationen gegen die Provinzstadt Licê und weitere Orte, kurdische Kommunen werden zunehmend unter Zwangsverwaltung gestellt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der Provinz Amed (türk. Diyarbakir) sind Mitte Juni erneut Ausgangssperren verhängt worden. Betroffen sind neben der Provinzstadt Licê 25 weitere Ortschaften und Dörfer, wie z.B. die Dörfer Hani, Farqîn (Silvan) und Hêzro (Hazro). 17.000 Soldaten und Sondereinheiten wurden dafür eingesetzt. Ausgangssperren bedeuten, dass die Bewohner ihre Häuser und Ortschaften nicht verlassen dürfen. Ab Mittwoch begann die türkische Armee mit F16-Kampfflugzeugen Luftangriffe auf diese Orte zu fliegen. Die HDP-Abgeordnete Sibel Yigitalp, die sich auf Grund der Angriffe nach Licê begeben hat, warnte vor neuen Massakern an der Zivilbevölkerung.

Wie die Informationsstelle Kurdistan e.V. am Samstag meldete, dauern die Militäroperationen bis heute an. Sie berichten von Angriffen aus der Luft und am Boden. In mehreren Dörfern wurde die Bevölkerung zwangsvertrieben und die Dörfer von den Militärs besetzt. Im Landkreis Hazro der Provinz Amed wurde begonnen, das Dorf Helhel (türk. Çiftlibahçe) in Brand zu stecken. Das Militär rückte mit Baggern an, forderte die Bevölkerung auf, die Häuser zu verlassen, da das Gebiet zur Sicherheitszone erklärt wurde. Dann wurden die Häuser in Brand gesetzt. Die Bewohner, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen, wurden verhaftet.

Bewohner aus dem Umland wollten als lebende Schutzschilder den Menschen in dem betroffenen Gebiet zur Hilfe kommen. Die 75 Personen zählende Gruppe wurde auf der Hauptstraße zwischen Amed (türk. Diyarbakır) und Cewlig (türk. Bingöl) festgenommen.

Das hier ursprünglich veröffentlichte Bild soll kein, wie von ANF behauptet, gelegtes Feuer im Lice-Distrikt zeigen, sondern einen Waldbrand an anderem Ort. Mittlerweile hat Kurdish Question die Fotos gelöscht ("photos in a previous post about fires started by Turkish military forces in the Kurdish regions Lice and Silvan have been revealed to be from another area. However the photos shared below are from the region.") und durch andere ersetzt. Auch HDPenglish erklärte, ein Foto sei fälschlicherweise im Umlauf gebracht worden. Wir haben das falsch in Umlauf gebrachte Foto aus dem Artikel entfernt, was am Inhalt von diesem aber nichts ändert.

Schon einmal wurden in Licê Häuser in Brand gesetzt und Hunderte von Menschen vertrieben. 1993 verübte das türkische Militär dort ein Massaker, dem 16 Menschen zum Opfer fielen. Nach 21 Jahren, einen Tag bevor die Verjährungsfrist abgelaufen wäre, begann der Prozess gegen den damaligen Kommandanten der Jandarmas. Der Prozess dauert noch an und dürfte wohl auch unter die gerade beschlossene Immunität der Militärs und Polizei fallen, da dieses Gesetz rückwirkend gilt (Türkisches Parlament gewährt Militär Immunität im Kampf gegen die PKK).

Der Internetblog "Kurdishquestion" postete Bilder aus der Region, die zeigen, wie das Militär nach der Zerstörung der Städte nun auch die ruralen Gebiete zerstört und in Brand setzt. All das erinnert stark an die 80er und 90er Jahre, als die Bevölkerung schon einmal diesem Terror ausgesetzt war und über 5000 Dörfer zerstört und die Bevölkerung vertrieben wurden. Heute hat diese Entvölkerung des Südostens jedoch eine größere Dimension. Denn es schwächt die linke demokratische Partei HDP, indem das Militär ihre Gebiete, in denen sie mit zum Teil über 90% gewählt wurden, entvölkert. Bei den letzten Kommunalwahlen haben die Kurden 113 Bürgermeistereien bekommen. Mit zum Teil traumhaften Ergebnissen von bis zu 70, 80, 93% der Stimmen.

Durch die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten, verlieren diese ihr Mandat und es müssen laut türkischem Wahlgesetz neue Kandidaten aus den Wahlkreisen der gecancelten Abgeordneten gewählt werden. Wenn es aber da keine Wähler der HDP mehr gibt, weil alle auf der Flucht sind, gewinnt die AKP diese Wahlkreise zurück. Die Enteignung und Gentrifizierung der kurdischen Städte sind im selben Kontext zu sehen.

Zwangsverwaltung der kurdischen Kommunen

Der nächste Schritt, die Strukturen der kurdischen Kommunen zu zerstören ist die geplante Zwangsverwaltung, die Regierungschef Binali Yildirim mit Terrorismusbekämpfung begründet:

Im Rahmen der Terrorbekämpfung müssen wir weitere Schritte tätigen, wie beispielsweise die Kommunen, die den Terror finanzieren, zur Rechenschaft ziehen. Diese Kommunen erhalten das Geld von dem Staat und reichen sie weiter an die Terrororganisation. In naher Zukunft werden wir sie zur Rechenschaft ziehen.

Binali Yildirim

Staatliche Treuhandverwaltungen, die von der Regierung ernannt werden, sollen die (gewählten!) Stadtverwaltungen übernehmen. Diese Praxis hat die türkische Regierung schon bei unbequemen Zeitungsredaktionen wie zuletzt der Tageszeitung Zaman angewandt.

Diese neuen Gesetze erläutert der türkische Umweltminister Mehmet Özhaseki wie folgt:

Die neuen Gesetze basieren auf zwei Schritten: 1. Die Gouverneure werden die Kommunen, die nicht arbeiten, abmahnen und ihnen eine Frist setzen. Ist diese abgelaufen und keine Besserung zu sehen, wird der Gouverneur diese Aufgaben übernehmen. Im zweiten Schritt werden die Bürgermeister, denen nachgewiesen wird, dass sie den Terror unterstützen, suspendiert. An ihre Stelle wird jemand auf Vorschlag des Gouverneurs durch das Innenministerium ernannt.

Mehmet Özhaseki

Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker sagte als Reaktion auf diesen erneuten Versuch, demokratische Rechte außer Kraft zu setzen: "Seit Jahren sind Inspektoren in unseren Kommunen präsent. Sie haben Zugang zu allen Unterlagen in unseren Kommunen. Eine normale Inspektion dauert ein paar Tage, bei uns sind es jetzt schon Jahre. Sie sprechen von Terrorunterstützung, können aber den Staatsanwälten keine Beweise liefern. … Wenn irgendetwas aufgrund von Korruption unter Treuhand gestellt werden muss, dann ist es der Präsidentenpalast."