Prozesskostenhilfe und ALG II - die ewige Missbrauchsdebatte

Außer Kontrolle

Wenn ALG II-Empfänger oder Geringverdiener Klagen anstreben, geht es oft um Kleinbeträge, die für sie existenziell sein können. Dem soll nun ein Riegel vorgeschoben werden

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Vor nicht allzulanger Zeit gab es in Deutschland ein Treffen einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich für Datenschutz interessieren. Auf die Frage, ob ich auch teilnehmen möchte, antwortete ich sinngemäß mit "Schon, aber abgesehen von meinen gesundheitlichen Problemen wäre dies auch finanziell nicht möglich", was mit einem recht ungläubigen "Aber man kommt doch schon für 100 Euro nach Deutschland (inclusive Übernachtung)" beantwortet wurde. Die Annahme, dass 100 Euro für jemanden eine größere Summe darstellen könnten, war für einige Menschen etwas, was trotz steigender Berichterstattung über prekäre Arbeitsverhältnisse und Verarmung nicht verstanden werden konnte.

"Geringfügige Beträge" ist ein Begriff, der insofern stets auch von demjenigen, der ihn anwendet, geprägt ist. Dies spiegelt sich auch in den Bewertungen mancher Klagen seitens ALG II-Empfänger wider, wenn es heißt: "Kein Wunder, dass die Justiz überlastet ist, wenn jemand wegen 10 Euro klagt." Die Idee, dass 10 Euro für jemanden durchaus kein geringfügiger Betrag sein können, dass abseits der prinzipiellen Frage einer Klage bei nach Meinung des Klägers unrechtmäßigen Kürzungen (z.B.) ein Betrag, möge er auch noch so klein sein, für denjenigen eben nicht als vernachlässigbar gilt, sondern er im Gegenteil einen großen Unterschied macht, ist für diejenigen, die nicht auf jeden Cent achten müssen, oft nicht verständlich.

Seit es Leistungen in Form von ALG II gibt, haben sich die Klagen bei den Sozialgerichtbarkeiten gehäuft – viele von ihnen waren durchaus erfolgreich. Oder simpel ausgedrückt: Entscheidungen von ArGen wurden von den Gerichten korrigiert. Doch dies hat nicht dazu geführt, dass die ALG II-Gesetzgebung an sich einmal von den Verantwortlichen überprüft wurde, stattdessen wurde häppchenweise herumgedoktort und zum 10jährigen Jubiläum wurde das deutsche Jobwunder gepriesen, die Lohnzurückhaltung der Deutschen, die erst durch ALG II möglich wurde...

Doch die Klagen gegen Entscheidungen im Sinne der ALG II-Gesetzgebung reißen nicht ab. Noch 2009 berichtete der Tagesspiegel von rund 175.000 neuen Klagen und Eilanträgen beim Bundessozialgericht in Kassel im Jahr 2008, 2010 hatte sich die Lage wenig verbessert und der Präsident des BSG rechnete mit einem weiteren Anstieg der Klagen. Die Politik reagierte auf die Problematik eher hilflos und schlug 2004 beispielsweise vor, dass diejenigen, die Anspruch auf Prozesskostenhilfe hätten, je nach Instanz 75, 150 oder 225 Euro selbst zahlen sollten. Für einen ALG II-Empfänger wären das Kosten gewesen, die immerhin bis zu 60% des Regelsatzes ausmachen.

Zuviele Klagen? Das liegt daran, dass jeder günstig klagen kann

In ähnlicher Weise reagiert derzeit die Politik derzeit. Da die Situation bezüglich der Klagen weiterhin unverändert geblieben ist, wird überlegt, inwiefern die Zahl der Klagen eingedämmt werden kann. Eine Reform der Prozesskostenhilfe soll den Missbrauch der Prozesskostenhilfe eindämmen und die Situation regeln. Am 15. August 2012 passierte ein entsprechender Gesetzesentwurf das Kabinett. Dieser Entwurf, der offiziell eine Lösung dafür sein soll, die Prozesskostenhilfegewährung effizienter zu gestalten, zeigt schon am Anfang auf, worum es geht:

Durch die Absenkung von Freibeträgen, die Verlängerung der Ratenzahlungshöchstdauer um zwei Jahre und die Neuberechnung der PKH-Raten sollen die Prozesskostenhilfeempfänger in stärkerem Maße als bisher an der Finanzierung der Prozesskosten beteiligt werden.

Für Geringverdienende und/oder Transferleistungsempfänger bedeutet dies, dass sie zum einen, sollte das Gesetz dergestalt verändert werden, stärker an den Prozesskosten beteiligt werden bzw. Prozesskostenhilfe in vielen Fällen nicht mehr gewährt werden wird. Dies bedeutet gerade für jene, die bereits nur über geringe finanzielle Mittel verfügen, dass diese Mittel sich durch die gerichtliche Verfolgung von ihrer Meinung nach bestehenden Unrechtmäßigkeiten noch stärker verringern. Die Absenkung der bisherigen Freibeträge bedeutet für viele, die bisher Anrecht auf Prozesskostenhilfe hatten, dass dieses Anrecht entfällt.

Im Entwurf wird dieser Erfüllungsaufwand für die Betroffenen freundlich formuliert:

Für einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger kann durch die Änderungen des Prozesskostenhilferechts ein Erfüllungsaufwand entstehen, wenn sie Rechtsstreitigkeiten führen. Der Erfüllungsaufwand ist Folge der verstärkten Beteiligung der Empfänger von Prozesskostenhilfe an den Prozesskosten. Bei der Beratungshilfe entsteht für die Bürgerinnen und Bürger ein Erfüllungsaufwand, wenn sie außergerichtlichen, mit Kosten verbundenen Rechtsrat in Anspruch nehmen und aufgrund der Neuregelungen nicht mehr beratungshilfeberechtigt sind.

Doch noch ein weiterer Aspekt des Entwurfes ist bedenklich – bei geringem Streitwert soll zukünftig auch dann keine Prozesskostenhilfe mehr gewährt werden, wenn die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Gerade also bei den anfangs beschriebenen geringen Beträgen, die für die Betroffenen eben nicht vernachlässigbar sind, soll die Prozesskostenhilfe ersatzlos gestrichen werden. Geringverdiener und/oder Transferleistungsempfänger, die sich um 10 Euro, die immerhin z.B. die Praxisgebühr ausmachen können, 3 Tage Essen usw., dürfen also zunächst stark in die ohnehin nur wenig gefüllte Tasche greifen, um einen solchen Anspruch durchzusetzen.

Die Piratenpartei Bayern hat sich bereits ausdrücklich gegen den Entwurf ausgesprochen.

"Die Piratenpartei Bayern fordert die Regierung auf, diese Pläne unverzüglich fallen zu lassen und sich stattdessen ernsthaft mit den Problemen zu beschäftigen, die Hartz IV noch immer verursacht. Nach Angaben des Sozialgerichts Berlin erzielt in diesen Verfahren rund die Hälfte aller Kläger zumindest einen Teilerfolg. Von Missbrauch kann also keine Rede sein.

»Für viele ALG-II-Empfänger und Geringverdiener ist die Prozesskostenhilfe die einzige Möglichkeit, sich vor Gericht sowohl gegen Fehlentscheidungen und Sanktionen der Ämter zur Wehr zu setzen, als auch gegen andere zu verteidigen. Dass es hier häufig nur um verhältnismäßig geringe Beträge geht, liegt in der Natur der Sache«, stellt Stefan Körner, Landesvorsitzender der Piratenpartei Bayern, fest. »Statt Geringverdienern die Möglichkeit zu nehmen, gegen Willkür vor Gericht zu ziehen, sollte man sich fragen, ob hier nicht nur an den Symptomen des eigenen Versagens zu Lasten Betroffener herumgedoktert wird. Allein die 170.488 bei den Sozialgerichten im Jahr 2011 neu eingegangenen Klagen sind ein deutliches Indiz dafür, wie viele Menschen von diesem Versagen betroffen sind.«

Der Gesetzesentwurf zeigt erneut, dass die Politik krampfhaft an den ALG II-Regelungen festhält und weiterhin die Betroffenen für die daraus entstandenen Problematiken verantwortlich macht. Die Tatsache, dass ca. 50% aller Klagen positiv für den Kläger beschieden werden, hält die Politik nicht davon ab, weiter vom Missbrauch der Klagemöglichkeit und der Prozesskostenhilfe zu sprechen.