Corona-Lockdown: Droht tatsächlich eine akute nationale Gesundheitsnotlage?

Eine kritische evidenzbasierte Prüfung

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Gestern einigten sich Bund und Länder darauf, zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 ab dem 2. November strenge Kontaktbeschränkungen einzuführen und fast alle Freizeitaktivitäten herunterzufahren. Eine der zentralen Begründungen dafür lautet, dass eine nationale Gesundheitsnotlage vermieden werden muss. So sagte Kanzlerin Angela Merkel:

Wir müssen handeln, und zwar jetzt. Und zwar müssen wir handeln, um eine akute nationale Gesundheitsnotlage zu vermeiden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Eines der zentralen Argumente dafür, dass eine nationale Gesundheitsnotlage drohen könnte, ist der berichtete Anstieg in der Anzahl der "COVID-19-Intensivpatienten". So erklärte beispielsweise Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Anschluss an die Ministerpräsidentenkonferenz:

Die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen verdoppelt sich derzeit alle acht Tage. Wenn wir diese Entwicklung nicht bremsen, dann sind die Intensivstationen in Deutschland bis zum Nikolaustag voll.

Winfried Kretschmann

Die Problematik der Diagnostik bei den "COVID-19-Intensivpatienten"

In der Tat ist laut den Tagesreporten des DIVI-Intensivregisters die Anzahl der Intensivpatienten mit Diagnose "COVID-19" in den letzten Wochen stark gestiegen. Eine offizielle Antwort auf eine Anfrage an das DIVI-Intensivregister zur Diagnostik von "COVID-19-Intensivpatienten" offenbart aber ein fundamentales diagnostisches Problem. Dort wird bestätigt, dass (1) jeder Intensivpatient - unabhängig von der Symptomatik - mit einem SARS-CoV-2-PCR-Test getestet wird und (2) jeder Intensivpatient - unabhängig von der Symptomatik - mit einem positiven SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis als "COVID-19-Intensivpatient" geführt wird. Letzteres wird auch in einer offiziellen Antwort des RKI auf eine entsprechende Anfrage bestätigt. Selbst wenn demnach beispielsweise eine Person wegen eines Autounfalls auf Intensivstation liegen würde und ein positives SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis aufweist ohne jede weitere COVID-19-spezifische Symptomatik, würde diese Person als "COVID-19-Intensivpatient" zählen.

Eine solche Art der Diagnostik bringt aber ein fundamentales Problem mit sich: Womöglich werden manche Intensivpatienten als "COVID-19-Intensivpatienten" geführt, obwohl sie keinerlei COVID-19-spezifische Krankheitssymptome aufweisen und in Wirklichkeit aufgrund von anderen Ursachen auf der Intensivstation liegen. Der beobachtete starke Anstieg in der Anzahl der Intensivpatienten mit positiven PCR-Testergebnissen muss demnach nicht notwendigerweise einen starken Anstieg in der Anzahl der Patienten mit COVID-19-spezifischen Krankheitssymptomen bedeuten.

Der Anstieg in der Belastung der Krankenhäuser: Eine kritische evidenzbasierte Prüfung

Um empirisch zu prüfen, inwiefern der beobachtete Anstieg in der Anzahl der Intensivpatienten mit positiven PCR-Testergebnissen tatsächlich einen Anstieg in der Anzahl der Patienten mit COVID-19-spezifischen Krankheitssymptomen bedeutet, kann man sich zunächst die vom DIVI-Intensivregister veröffentlichten Zahlen zur Belegung der Intensivstationen genauer ansehen.

Grundlegend ist dafür folgende Überlegung: Wenn es aktuell einen echten Anstieg von Intensivpatienten mit COVID-19-Krankheitssymptomen geben würde, dann müsste eigentlich auch die Gesamtanzahl der belegten Intensivbetten steigen. COVID-19 ist eine neue Krankheit, dementsprechend müsste die steigende Anzahl an COVID-19-Intensivpatienten eigentlich zu den für diese Jahreszeit ansonsten typischen Krankheiten auf Intensivstation hinzukommen (außer man würde zugunsten von COVID-19-Intensivpatienten andere Intensivpatienten auf die Normalstation verlegen).

Die folgende Abbildung zeigt die Anzahl der insgesamt belegten Intensivbetten und die Anzahl der als "COVID-19-Intensivpatienten" diagnostizierten Intensivpatienten (= Intensivpatienten mit positivem SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis unabhängig von der Symptomatik) für die letzten beiden Monate (Quelle: DIVI-Intensivregister; Stand: 28.10.):

Es lässt sich kein wirklicher Anstieg in der Anzahl der insgesamt belegten Intensivbetten erkennen. Das einzige, was ansteigt, ist die Anzahl der Intensivpatienten mit positivem SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis. Dieses Muster wird auch durch weitere Befunde bestätigt. Im wöchentlichen Influenzabericht des RKI wird die Anzahl stationär behandelter Fälle mit akuten respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle) berichtet sowie der Anteil dieser Fälle, welcher ein positives SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis aufweist (basierend auf den Daten aus 71 Sentinelkliniken). Die folgende Abbildung zeigt die Graphik aus dem aktuellen Influenza-Wochenbericht zur Entwicklung in den letzten Wochen (Influenza Wochenbericht zur 43. Kalenderwoche):

Hier zeigt sich praktisch dasselbe Muster: Die Gesamtanzahl der stationär behandelten SARI-Fälle bleibt gleich bzw. sinkt sogar leicht, es steigt einzig der Anteil der SARI-Fälle (schwere akute Atemwegsinfektionen - severe acute respiratory infection), welche ein positives SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis aufweisen.

Man findet also sowohl in Bezug auf die Belegung der Intensivstationen als auch in Bezug auf die stationär behandelten SARI-Fälle folgendes eigenartige Muster: Die Gesamtanzahl an Intensivpatienten und stationär behandelten SARI-Fällen bleibt gleich, das einzige, was zunimmt ist die Anzahl der Patienten mit positivem SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis. Sollte es sich also um echte "COVID-19"-Fälle handeln, dann müssten in den letzten Wochen gleichzeitig alle anderen Krankheiten auf den Intensivstation bzw. alle stationär behandelten SARI-Fälle mit anderen viralen Ursachen abgenommen haben, und zwar spiegelbildlich zum Anstieg in den "COVID-19"-Fällen. Das erscheint relativ unwahrscheinlich.

Es ist noch darauf hinzuweisen, dass auch die Anzahl der beatmungspflichtigen "COVID-19-Intensivpatienten" zunimmt. Hier wird vom DIVI-Intensivregister leider nicht die Gesamtanzahl der beatmungspflichtigen Intensivpatienten veröffentlicht. Angesichts der Tatsache, dass die Gesamtanzahl der belegten Intensivbetten über die letzten Wochen hinweg nicht gestiegen ist, könnte auch hier zu beobachten sein, dass zwar die Anzahl der beatmeten Intensivpatienten mit positivem SARS-CoV-2-Testergebnis steigt, nicht aber die Gesamtanzahl der beatmeten Intensivpatienten. Allerdings ist das mit den verfügbaren Zahlen nicht überprüfbar.

Der Anstieg von Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung

Das gleiche Bild wie auf den Intensivstationen und bei den stationär behandelten SARI-Fällen zeigt sich auch außerhalb der Kliniken. In den letzten Wochen wurde ein starker Anstieg in der Anzahl der gemeldeten Personen mit positivem SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis beobachtet. Damit wäre eigentlich auch hier zu erwarten, dass die Anzahl der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung steigt, weil es sich um eine neue Krankheit handelt, welche zu den saisontypischen Atemwegserkrankungen hinzukommt.

Die folgende Abbildung zeigt die aktuellen Auswertungen der Arbeitsgemeinschaft Influenza des bevölkerungsbasierten Überwachungsinstruments GrippeWeb - ein Online-Portal, über welches jede Woche Tausende von deutschlandweit registrierten Personen anonym neu auftretende Atemwegserkrankungen melden. Über die letzten Wochen hinweg ist die Anzahl der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung nicht gestiegen und zuletzt sogar leicht gesunken, obwohl die Anzahl der positiven SARS-CoV-2-PCR-Testergebnisse in der Bevölkerung stark angestiegen ist (Quelle: Influenza Wochenbericht zur 43. Kalenderwoche):

Nimmt man die beschriebenen Befunde zur Belegung der Intensivstationen, zur Anzahl der behandelten SARI-Fälle und zur Anzahl der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung zusammen, zeigt sich überall dasselbe Muster: Auf der Ebene der Gesamtanzahl der belegten Intensivbetten, der Gesamtanzahl der stationär behandelten SARI-Fälle und der Gesamtanzahl der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung gibt es keinerlei Anstieg in den letzten Wochen, der einzige Wert, der ansteigt, ist ein Anstieg der positiven SARS-CoV-2 -PCR-Testergebnisse.

Mögliche Erklärungen: Qualitativ minderwertige PCR-Testungen aufgrund einer Überlastung der Labore?

Wie kann ein solche Muster erklärt werden? Eine theoretische Erklärungsmöglichkeit wäre, dass über die letzten Wochen hinweg nur die Krankheit COVID-19 zunimmt, während alle anderen Krankheiten über die letzten Wochen hinweg spiegelbildlich dazu abgenommen haben. Das erscheint schon an sich unwahrscheinlich, noch unwahrscheinlicher ist, dass sich ein vergleichbares Muster bei den verschiedenen Krankheiten auf Intensivstationen, den durch andere virale Erkrankungen bedingten SARI-Fällen und den Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung zeigt.

Einen Hinweis auf eine weitere mögliche Erklärung liefert ein weiterer Befund aus den Influenza-Wochenberichten. Im Rahmen der Influenza-Überwachung werden die von Referenzpraxen an das RKI eingesendeten Proben (sog. Sentinelproben) von Patienten mit Atemwegsinfektionen auf das Vorhandensein von Influenza- und Erkältungsviren und seit dem 24. Februar auch auf das Vorhandensein von SARS-CoV-2 untersucht. In Reaktion auf den erstmaligen Nachweis des Virus SARS-CoV-2 in einer dieser Probe in der 10. Kalenderwoche sagte Lars Schaade, der Vizepräsident des RKI, auf einer Pressekonferenz am 12. März:

Wir ziehen damit praktisch eine Stichprobe aus der Bevölkerung von Menschen mit Atemwegsinfektionen, um zu schauen, inwieweit sich das neue Virus in der Bevölkerung schon verbreitet hat.

Lars Schaade

Man kann sich nun ansehen, wie stark sich das Coronavirus in den letzten Wochen laut dieser Stichprobe verbreitet hat. Die folgende Abbildung zeigt die Anzahl der in den eingesandten Sentinelproben identifizierten Atemwegsviren für die letzten vier Kalenderwochen (Influenza Wochenbericht zur 43. Kalenderwoche):

Während in den Kalenderwochen 40 und 41 noch in 2 bzw. 6 Prozent der Proben das Virus SARS-CoV-2 nachgewiesen wurde, ließ sich in keiner der Sentinelproben in den letzten beiden Kalenderwochen das Virus SARS-CoV-2 nachweisen. Die Anzahl der in der 42. Und 43. Kalenderwoche eingesandten Proben ist zwar relativ klein, zusammengenommen ist die Anzahl der eingesandten Proben aber in der Größenordnung der Kalenderwochen 40 und 41, in welchen noch SARS-CoV-2-Viren nachgewiesen wurden. Diese Ergebnisse stehen in starkem Kontrast dazu, dass in derselben Zeit die Anzahl der gemeldeten Personen mit positivem SARS-CoV-2 Testergebnissen in der Bevölkerung sehr stark zugenommen hat.

Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass qualitativ unterschiedliche PCR-Testverfahren benutzt werden. Bei einem diagnostischen Test können Personen ein positives Testergebnis erhalten, obwohl sie gar nicht infiziert sind (falsch-positives Testergebnis). Beim SARS-CoV-2-PCR-Test hängt die Häufigkeit des Auftretens falsch-positiver Testergebnisse vom verwendeten Testverfahren ab. Wird eine Probe nur auf das Vorhandensein einer Gensequenz getestet (Single-Target Test), so ist die Falsch-Positiv-Rate höher, als wenn in einem Bestätigungstest auf das Vorhandensein weiterer Gensequenzen getestet wird (siehe z.B. den Artikel in der NZZ für einen Überblick). So heißt es beispielsweise in einer Fachinformation von Biovis Diagnostik, einem großen Anbieter eines umfangreichen Spektrums an Laboranalysen, unter dem Punkt "Spezifität" (Fachinformation Biovis Diagnostik):

In den letzten Monaten kam es immer wieder zu Berichten, die Zweifel an der Spezifität der SARS-CoV-2-PCR aufkommen ließen. Es wurden Personen positiv auf das Virus getestet, ohne dass Symptome vorlagen. Durch örtliche Gesundheitsämter angeregte Nachtestungen ergaben einen negativen Befund. Wie kam diese Diskrepanz zustande? Viele Labore setzen zum Nachweis von SARS-CoV-2 PCR-Verfahren ein, die nur das E-Gen des Virus erkennen. Diese Tests sind kostengünstig und zeichnen sich durch eine hohe Sensitivität aus. Da das E-Gen, welches lediglich die Virushülle codiert, aber nicht spezifisch für SARS-CoV-2 ist, sondern auch andere Coronaviren (Sarbecoviren) erkennt, wurden früher E-Gen-positive Proben mit einer 2. PCR untersucht, um sicherzustellen, dass es sich wirklich um SARS-CoV-2 handelt. Gesucht wurde in der Bestätigungs-PCR nach spezifischen Genen, wie dem RdRP-Gen, dem S-Gen oder dem ORF1-Gen. Als auf Empfehlung der WHO für endemische Gebiete die Bestätigungstests eingestellt wurden, erfolgte ab April 2020 in vielen kleineren Laboren ein PCR-Nachweis von SARS-CoV-2 nur noch über das E-Gen.

Biovis Diagnostik

Offenbar werden in Anlehnung an die entsprechende Empfehlung der WHO in der Laborpraxis nicht standardmäßig Bestätigungstests durchgeführt. Dies bestätigt auch eine Laborumfrage der Deutschen Presseagentur:

Die Deutsche Presse-Agentur hat beispielhaft mehrere große Labore angefragt. Konkret geantwortet hat Synlab, ein Anbieter, der nach eigenen Angaben aktuell bis zu 80.000 Tests pro Woche durchführt. Synlab schreibt, dass standardmäßig nicht auf mehrere Genstellen getestet wird. Auch werde nicht jedes positive Testergebnis mit einem Zusatztest bestätigt.

dpa

Wie in der Fachinformation der Firma Biovis Diagnostik beschrieben, ist insbesondere ein bloßer Test auf das E-Gen problematisch, da laut der Fachinformation bei einem Nachweis des E-Gens nicht spezifisch auf das Vorhandensein des Virus SARS-CoV-2 geschlossen werden kann, sondern womöglich eine Infektion mit anderen Coronaviren vorliegt.

Dass ein Single-Target PCR-Test relativ substantiell auf andere Coronaviren kreuzreagieren kann, zeigen auch die Ergebnisse aus den Instand-Ringversuchen, im Rahmen derer zur Qualitätssicherung an Labore Proben verschickt werden, welche das Genmaterial des Virus SARS-CoV-2 bzw. das Genmaterial anderer Coronaviren (HCoV, OC43 oder HCoV 229E) oder gar kein Virusmaterial enthalten.

Hier zeigte sich bei den Ringversuchen im April, dass bei den 983 verschickten Proben ohne Virusmaterial in 7 Fällen fälschlicherweise ein SARS-CoV-2-positives Testergebnis rückgemeldet wurde, was einer Falsch-Positiv-Rate von 0,7 Prozent entspricht. Bei den 983 Proben mit Virusmaterial des Coronavirus HCoV OC43 wurde in 8 Fällen fälschlicherweise ein positiver SARS-CoV-2 Nachweis rückgemeldet, was einer Falsch-Positiv-Rate von 0,8 Prozent entspricht, bei den 983 Proben mit Virusmaterial des Coronavirus HCoV 229E wurde in 67 Fällen fälschlicherweise ein positiver SARS-CoV-2 Nachweis rückgemeldet, was einer Falsch-Positiv-Rate von 6,8 Prozent entspricht.

Diese Ergebnisse zeigen, dass beim Vorhandensein harmloserer Coronaviren substantielle Falsch-Positiv-Raten auftreten können.1 Das ist insbesondere deswegen problematisch, weil in der aktuellen Jahreszeit ein Anstieg von Infektionen mit harmloseren Coronaviren zu erwarten ist.

Die folgende Abbildung zeigt die Ergebnisse einer aktuellen Studie [CK2]zum saisonalen Verlauf von Coronavirus-Infektionen in den letzten Jahren. Wie man sieht, ist ein Anstieg der Coronavirus-Fallzahlen in der aktuellen Jahreszeit relativ typisch:

Wird also nur ein Single-Target Test ohne weiteren Bestätigungstest verwendet, ist mit einer höheren Rate an falsch-positiven SARS-CoV-2-Testergebnissen zu rechnen, als wenn ein Bestätigungstest durchgeführt wird. Während bei den Analysen der Sentinelproben durch das RKI davon auszugehen ist, dass hochspezifische Testverfahren verwendet werden, legt die erwähnte Fachinformation der Firma Biovis Diagnostik und die erwähnte dpa-Laborumfrage nahe, dass das bei den Labortestungen in der Bevölkerung aktuell aufgrund der hohen Laborbelastung nicht immer der Fall ist.

Aktuelle Belege für die Problematik falsch-positiver Testergebnisse

In der Tat gab es in den letzten Tagen Medienberichte, dass es ein größeres Problem hinsichtlich des Auftretens falsch-positiver Testergebnisse geben könnte. So stellte sich bei einer Nachkontrolle von 60 positiven Testergebnissen eines Augsburger Labors heraus, dass 58 der positiven Testergebnisse in Wirklichkeit falsch-positiv waren, was einer extrem hohen Quote von 96,7 Prozent entspricht. Im Münchner Merkur heißt es hierzu:

Wegen der kaum erklärbaren Häufung der positiven Testergebnisse ließ das Isar-Amper Klinikum in Taufkirchen/Vils erneut testen. Das Ergebnis: Von 60 Corona-Tests, die vorige Woche vom Augsburger MVZ-Labor (früher Schottdorf) positiv getestet wurden, entpuppten sich beim Kontrolltest 58 als negativ - die Patienten waren also völlig unnötigerweise isoliert worden und die Gesundheitsämter hatten unnötigerweise die Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt.

Münchner Merkur

Interessant ist insbesondere auch die Erklärung des betroffenen Labors dazu, welche im selben Merkur-Artikel erwähnt wird:

In der letzten Woche waren wir vor dem Hintergrund massiv angestiegener Testzahlen zusätzlich gezwungen, den Lieferausfall eines Herstellers zu kompensieren. Aufgrund des hohen Probenaufkommens und des fehlenden Zubehörs war eine Kontrolle positiver Ergebnisse nicht in allen Fällen zeitnah möglich.

MVZ-Labor

Da davon auszugehen ist, dass andere Labore aufgrund der massiv angestiegenen Testzahlen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, könnte das kein Einzelfall sein. Und wenn es kein Einzelfall wäre und in anderen Laboren auch nur ein Bruchteil der in dem Augsburger Labor beobachteten hohen Quote an falsch-positiven Testergebnissen zu beobachten wäre, würde die Anzahl der gemeldeten Personen mit positiven PCR-Testergebnissen die Anzahl der tatsächlich mit SARS-CoV-2 infizierten Personen substantiell überschätzen. In einem Artikel zu dem Augsburger Fall in BR 24 heißt es hierzu:

Dem Bericht zufolge sind die falschen Ergebnisse aber kein Einzelfall. Auch andere Labore hätten Schwierigkeiten, wegen Personalmangels und fehlender Reagenzien in der gewohnten Qualität zu testen. Prominente Beispiele für falsch-positive Tests sind etwa mehrere Spieler der Würzburger Kickers sowie des Drittligisten Türkgücü München.

BR24

In der Tat ist eine Häufung von Berichten zu falsch-positiven Testergebnissen im Bereich des Fußballs zu verzeichnen, wo die Vereine ein sehr hohes Interesse daran haben, möglichst zuverlässig zu testen. Ein weiteres Beispiel ist ein Vorfall in Heidenheim, dazu heißt es in der Welt:

Nach der Verwirrung um mehrere Corona-Tests brachte auch eine weitere Testreihe an diesem Samstag ausschließlich negative Ergebnisse hervor, wie der FCH mitteilte. Bei Testungen durch ein anderes Labor waren noch am Donnerstag sechs Personen des Zweitligisten positiv getestet worden, anschließend ließ der Club neue Tests durch das Klinikum Heidenheim durchführen - die nun wie schon am Freitag alle negativ waren. Der FCH prüft nun sogar, ob er gegen das ursprüngliche Labor rechtliche Schritte einleitet.

Die Welt

Die Erklärung des fehlenden Anstiegs in der Gesamtanzahl der belegten Intensivbetten, der stationär behandelten SARI-Fälle und der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung

Die Beobachtung, dass nur die Anzahl von Personen mit positivem SARS-CoV-2-PCR-Testergebnis steigt, während auf der Ebene der Gesamtanzahl der belegten Intensivbetten, der Gesamtanzahl der stationär behandelten SARI-Fälle und der Gesamtanzahl der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung keinerlei Anstieg in den letzten Wochen und im Vergleich zu den Vorjahren zu beobachten ist, könnte demnach folgendermaßen zu erklären sein:

Wenn tatsächlich in vielen Laboren schwerpunktmäßig nur Single-Target Tests ohne Bestätigungstest verwendet werden, könnte der Anstieg von Personen mit positiven SARS-CoV-2-PCR-Testergebnissen auf den Intensivstationen sowie bei den SARI-Fällen und in der Bevölkerung darauf zurückgehen, dass ein größerer Teil des Anstiegs auf die übliche saisonal bedingte Ausbreitung harmloserer Coronaviren zurückgeht, während die Ausbreitung des neuen Virus SARS-CoV-2 in Wirklichkeit relativ gering ist.

Da erstere Viren harmloser sind, wäre weder ein Anstieg der belegten Intensivbetten noch ein Anstieg der stationär behandelten SARI-Fälle zu erwarten. Weiterhin wäre auch keine höhere Anzahl von Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung im Vergleich zu den Vorjahren zu erwarten, weil die harmloseren Coronaviren auch in den Vorjahren zirkulierten.

Die Zahlen aus anderen Ländern

In den Medien gibt es Berichte, dass in anderen Ländern mancherorts die Intensivstationen bereits überbelegt sind, was auch Deutschland drohen könnte. Hier wäre allerdings zunächst zu überprüfen, inwiefern es sich hier um einen Effekt handelt, welcher im Vergleich zu den Vorjahren einen Ausnahmefall darstellt, oder ob es sich stattdessen um einen typischen saisonalen Effekt handelt. Nur im ersteren Fall ist davon auszugehen, dass es sich tatsächlich um einen Effekt des neuen Virus SARS-CoV-2. Eine solche Analyse liegt allerdings außerhalb des Rahmens dieses Artikels.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber noch der Hinweis, dass die Anzahl der Intensivbetten in Deutschland (29,2 Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern) weitaus größer ist als in Ländern wie beispielsweise Frankreich (11,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern) oder den Niederlanden (6,4 Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern), aus denen eine Überlastung der Intensivstationen berichtet wurde, was erklären könnte, warum dort die Intensivstationen – womöglich auch saisonal bedingt – schneller überfüllt sind.

Weiterhin ist es so, dass Probleme mit dem Auftreten von falsch-positiven Testergebnissen aus vielen Ländern berichtet werden, wie beispielsweise folgende Synopse aus den Medienberichten zu falsch-positiven Testergebnissen der letzten Monate zeigt, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass auch in vielen anderen Ländern oft nur Single-Target Tests ohne Bestätigungstest verwendet werden. Wie erwähnt, wird das von der WHO auch explizit empfohlen für Gebiete mit weiter SARS-CoV-2 Verbreitung.

Schlussfolgerungen

Die beschriebenen Befunde legen nahe, dass in Wirklichkeit keine nationale Gesundheitsnotlage droht. Weder ist die Gesamtanzahl der belegten Intensivbetten in den letzten Wochen gestiegen, noch die Gesamtanzahl der stationär behandelten SARI-Fälle, noch die Anzahl der Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung. Das einzige, was gestiegen ist, ist die Anzahl der Personen mit positiven SARS-CoV-2 Testergebnissen, was angesichts der sich häufenden Meldungen von falsch-positiven Testergebnissen daran liegen könnte, dass viele Labore Single-Target-Tests ohne Bestätigungstest einsetzen, so dass die erhaltenen positiven Testergebnisse womöglich zum Teil eher den üblichen saisonal bedingten Anstieg harmloserer Coronaviren widerspiegeln, als einen dramatischen Anstieg in SARS-CoV-2-Infektionen.

Da die zentrale Begründung für den drohenden "Lockdown 2.0" ein Anstieg der SARS-CoV-2-Fallzahlen und eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems ist, wäre die politische Entscheidung zur Verordnung des Lockdowns fundamental zu hinterfragen.

Abschließend soll noch angemerkt werden, dass mit diesem Artikel die vom Virus SARS-CoV-2 ausgehende Gefahr für davon betroffene Risikogruppen nicht in Frage gestellt werden soll. Diesbezüglich ist es wichtig, zwei Arten von Gefahrenmaßstäben auseinanderzuhalten, die in den öffentlichen wie politischen Diskussionen oft vermischt werden: (1) Die von einem Virus ausgehende Gefahr für eine infizierte Person und (2) die von einem Virus ausgehende Gefahr für die Bevölkerung. Erstere Gefahr ist durch die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs im Falle einer Infektion definiert, letztere Gefahr vor allem dadurch, wie stark sich ein Virus in der Bevölkerung verbreitet. So kann ein Virus für eine infizierte Person sehr gefährlich sein, trotzdem ist die Gefahr für die Gesamtbevölkerung gering, wenn das Virus kaum verbreitet ist.

In diesem Artikel geht es ausschließlich darum, zu einer validen Einschätzung der aktuellen Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 zu kommen. Und aus dieser Perspektive heraus erscheint - angesichts der beschriebenen Befundlage - die Gefahr für die Bevölkerung geringer zu sein, als es in den aktuellen politischen Debatten und Regierungserklärungen angenommen wird.

Prof. Dr. Christof Kuhbandner lehrt Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg.