Die zweite Supermacht?

Krieg und Internet (Teil I): Propaganda, Infowar, Medien, Mailinglisten und Weblogs

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Kriege sind Ausnahmezustände. Nicht nur für die direkt beteiligten Soldaten, die immer auch mitbetroffene und getroffene Zivilbevölkerung oder die politischen Entscheider. Sondern auch für die Medien. "Authentische" Informationen sind gefragt, geliefert von möglichst neutralen Beobachtern der Lage vor Ort. Sie gelten als "Heiliger Gral" der Kriegsberichterstattung. Die traditionellen Medien können diesem Anspruch aufgrund von strukturellen, personellen und redaktionellen Problemen aber kaum gerecht werden.

Häufig wird ihnen glattes Versagen aus jeder Richtung vorgeworfen: Sie könnten ihre "Wachhund-Funktion" als "vierte Gewalt" nicht erfüllen, würden im "Nebel des Krieges" blind oder sich als willige Propagandawerkzeuge von allen Seiten einspannen lassen. Als Hoffnungsträger tritt seit dem Kosovo-Krieg das Internet auf den Plan, als virtueller Raum, der mehr und kritischen Akteuren zu einer Stimme verhilft und die Missstände der "alten" Medien lindert. Doch bietet das weltweite Informations- und Kommunikationsnetz mit seinen Mailinglisten, Diskussionsforen und Weblogs tatsächlich einen Ausweg aus der Propaganda? Oder spiegelt es sie nur doppelt und dreifach?

Bonn Ende März 1999: Rudolf Scharping, damals Verteidigungsminister, ist moralisch entrüstet. Der SPD-Politiker spricht auf einer Pressekonferenz von "ernst zu nehmenden Hinweisen auf Konzentrationslager im Kosovo". Und legt noch einen Holocaust-Hammer drauf: "Ich sage bewusst KZ." Scharping stützt seine starken Behauptungen auf Hinweise, wonach das Fußballstadion Pristinas, der Provinzhauptstadt des Kosovo, in ein serbisches Konzentrationslager mit 100.000 Menschen verwandelt wurde. Doch die angeblich glaubwürdigen Quellen entpuppen sich als Hintermänner der UCK, der albanischen "Befreiungsarmee" für das Kosovo. Sie streute die Gerüchte bewusst, um ihre serbischen Gegner zu dämonisieren.

Szenenwechsel: Washington, DC, Ende Januar 2003. "Die britische Regierung hat Kenntnis davon erhalten, dass Saddam Hussein jüngst in Afrika nach bedeutenden Mengen Uran gefragt hat", malt US-Präsident George W. Bush die dunkle Bedrohung aus dem Irak vor dem Parlament und seinen Landsleuten in seiner Jahresansprache aus (Die Bush-Regierung, die Geheimdienste und die Mär vom irakischen Atomwaffenprogramm). Bushs hauptsächliche Quellen: ein krude gefälschtes Schriftstück aus Niger und zwei Dossiers aus der Downing Street, die der britische Premier Tony Blair bei seinem Auslandsgeheimdienst MI6 bestellt hatte. Davon war eines größtenteils aus einer historischen Doktorandenstudie abgekupfert und das zweite erwarb sich bald einen ähnlichen Ruf (Das verräterische Microsoft-Dossier).

Die Methoden sind immer die gleichen: Auch Vertreter westlicher Demokratien lügen, fälschen und blasen Mäuse zu Elefanten auf, sobald sie auf dem Kriegspfad sind. Die öffentliche Meinung will gewonnen und gehalten werden, koste es, was es wolle. Die Medien sehen sich mit einer Flut an "Informationen" konfrontiert, die von den "Kriegs- und Propagandaministerien" mit einem gewissen Spin versehen wurden. "Wir arbeiten in einer Welt der Desinformation. Von allen Seiten", schilderte Dschihad Ali Ballut, Sprecher des arabischen Senders al-Dschasira, die schwierigen Rechercheumstände während des Irak-Kriegs gegenüber dem "Spiegel".

Das Geflecht der Gerüchte und Halbwahrheiten ist schwer zu durchschlagen, sodass sich viele Sender und Zeitungen lieber gleich in patriotischen Jubel packen. Tür und Tor weit geöffnet hat der Propaganda der 11. September 2001. Denn gleichzeitig mit dem von der Bush-Regierung nach den Anschlägen reflexartig auf unbestimmte Zeit ausgerufenen "Krieg gegen den Terror" erfolgte der wahre Lockruf der Desinformation.

Aufrüstung an der Propagandafront

Das Weiße Haus und das Pentagon selbst rüsteten ihre "Kommunikationsstellen" und Propaganda-Abteilungen immens auf. Als Beispiel sei nur das mysteriöse Office of Strategic Influence, eines der Lieblingsprojekte Donald Rumsfelds genannt, von dem sich der US-Verteidigungsminister nur mehr schlecht als recht distanzierte. Aber auch aus so manch anderem Plan für "Information Operations" wird im Pentagon letztlich gar nicht viel Hehl gemacht.

Geht es doch im Schlachtfeld genauso wie in den Schützengräben der öffentlichen Meinung permanent um die Kontrolle des Denken des Gegners. Dazu werden alle Mittel des Infowar eingesetzt. Zu dessen inzwischen gut dokumentierten Instrumentarium gehören staatliche diplomatische Maßnahmen ebenso wie Propaganda, psychologische Kampagnen (PSYOP), politische und kulturelle Subversion, Täuschung oder Störung lokaler Medien. Erweitert wurde diese klassische Palette mit dem Boom des Internet durch die Infiltration von Computernetzwerken und Datenbanken sowie Bemühungen, über Computernetzwerke regierungsfeindliche oder oppositionelle Bewegungen zu fördern (vgl. etwa Arquilla und Ronfeldt: Cyberwar is Coming!).

Medien sind anfällig für die meisten Formen des Infowar und auch ein wichtiger Teil dieser militärpolitischen Strategie. Um sie auf Linie zu bringen und ihr Enthüllungspotenzial zu bündigen, üben sich die Herrscher und Militärführer traditionell in Zensur, die mal offen, mal sanft mit der Überflutung der Reporter durch Videobilder von "Präzisionswaffen" in "Presse-Briefings" und sprachlichen "Schönschreibungen" wie den berüchtigten "Kollateralschäden" oder den "chirurgischen Schlägen" daherkommt. Der Coup des Pentagons schlechthin im Irak-Krieg war es aber, über 500 Journalisten ganz mit in den Krieg zu nehmen und so gleichzuschalten mit dem Militär.

Es war die bislang eleganteste Form der Zensur, die sich ein Oberkommando ausdenken konnte. Denn einerseits waren die Zuschauer und die Sender froh über die "faszinierenden Bilder" direkt von der Front. Ein Hyper-Reality-Spektakel sondergleichen flimmerte über die Mattscheiben, noch "liver" als 12 Jahre zuvor, als Peter Arnett für CNN aus Bagdad schon einmal den ersten Krieg in Echtzeit aus der Retorte hob. Andererseits konnten sich auch das Pentagon und das Weiße Haus darüber freuen, die Presseleute an die Kandare gelegt zu haben. Denn die psychische Nähe zu den "Jungs" an der Front schlug bei den meisten in eine psychologische Verbundenheit um (Eine gesäuberte Version vom Krieg). Glanzleistungen im kritischen Journalismus waren von den "embedded correspondents" so nicht zu erwarten. Wer den Krieg aus der Augenhöhe des Panzer-Stahlrohrs wahrnimmt, dem geht der Blick für das Ganze verloren.

Das Internet: Zersetzung der Kriegslüge?

Das Internet wird dagegen gern als "Medium des Bruchs" angesehen, das zwar nicht gänzlich gegen die Waffen des Infowar gefeiht sei, aber doch bei der "Zersetzung" der Kriegslügen helfen könne. So schreiben es zumindest die beiden Medienexperten Metz und Seeßlen in ihrem Buch über den "Krieg der Bilder" und die "Bilder des Krieges". Tatsächlich treffen die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Filter, die Herman und Chomsky in ihrem Propaganda-Modell den Massenmedien angeheftet haben, auf das Internet nicht zu. Das Netz ist (zumindest noch) nicht in der Hand einiger weniger Mogule. Es speist seine Inhalte aus mannigfaltigen, gigantischen und nahezu globalen Quellen, sodass sich eine "offizielle Regierungssicht" auf die Welt schon allein aus der Internationalität des Netzes heraus ad absurdum führt.

Gezielt haben sich im Internet in den vergangenen zehn Jahren auch Informationsforen entwickelt, welche die (Medien-) Welt um sie herum kritisch begleiten und teils mit gehobenen Ansprüchen an geführte und zu führende internationale vernetzte Diskurse antreten. Einen bereits etwas älteren Info- und Debattierclub in dieser Hinsicht stellt beispielsweise die Mailingliste nettime dar. Sie wurde 1995 von Pit Schultz (Berlin) und Geert Lovink (damals Amsterdam, heute Sydney) ins Leben gerufen und sah sich anfangs vor allem als europäischer Gegenspieler zum überschäumenden "Cyberhype" des damaligen "Hausblatts der digitalen Revolution", dem US-Magazin Wired.

Eine "selbsterklärte, intellektuelle Elite" hat sich dort zusammengefunden, die über Länder- und Kulturengrenzen hinweg "ein waches Auge auf die Entwicklung von Internet und Gesellschaft hält" (Nettime oder die Kunst der Diskussion). Die Struktur der Liste hat sich inzwischen wiederholt geändert. So wurde beispielsweise nach wenigen Jahren eine - nicht immer ganz unumstrittene - Moderation eingeführt und auf ein "normales" Abomodell umgestellt, sodass nettime inzwischen für alle Interessierten offen steht. Den Höhepunkt seines Schaffens erlebte das Forum jedoch bezeichnenderweise während des Kosovo-Kriegs - zumindest, was die Zahl der produzierten Beiträge angeht.

Krieg ist zum Kotzen

Mit dem Irak-Krieg rückten dagegen die Weblogs und Warblogs ins Licht der medialen Aufmerksamkeit. Hervorgerufen hat das Interesse hauptsächlich der irakische Blogger mit dem Pseudonym Salam Pax, der als Einheimischer direkt aus Bagdad Irrungen und Wirrungen in der vom Bombenhagel bedrohten Stadt einer eingeschworenen Fangemeinde vor Augen führte. Freunde machte sich der Netzchronist des Bagdader Alltags, der seine wahre Identität bis heute geheim hält, dank seiner weitgehend neutralen, unabhängigen Sicht der Dinge sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern des Wüstenfeldzugs.

"Krieg ist zum Kotzen" - dieses Fazit zog Salam Pax etwa, als er sich nach zweiwöchigem Abtauchen in der Bagdader Bombenwirklichkeit am 7. Mai wieder in seinem Weblog zu Wort meldete (Salam Pax postet wieder). "Lassen Sie sich bloß nicht überreden, dass jemand einen Krieg im Namen ihrer Freiheit führt", schrieb der den Frieden gleich doppelt im Namen führende Iraker. "Irgendwie denkt man nicht mehr an seine 'unmittelbar bevorstehende Befreiung', wenn die Bomben zu fallen beginnen und man das Geknatter der Maschinengewehre am Ende seiner Straße hört."

Gegen Vorwürfe, selbst das Bagader Regime zu vertreten, wehrte sich Salam Pax. Er sei Niemands Propagandawerkzeug, nur sein eigenes, sagte er einmal. Letztlich kam er der im Krieg seltenen Position eines authentischen und nicht auf Desinformation abgerichteten Beobachter sehr nahe und wurde dementsprechend häufig in der gesamten Medienwelt - online wie offline - gefeiert.

Jim Moore, ein Forscher vom Berkman Center for Internet & Society der Harvard University (das seine Einstiegsseite übrigens in ein Weblog verwandelt hat), rief mitten im Irak-Krieg die Blogs neben vernetzten Aktivistengruppen, Friedensbewegten und internationalen Organisationen gar als wichtigen Bestandteil der "zweiten Supermacht" aus, die im Netz ihr "wunderschönes Haupt" erhebe und sich gegen die imperialen Ansprüche der "ersten Supermacht", der USA, stelle. Kein Wunder, dass der Beitrag sich wie ein Computervirus in der Blogosphäre ausbreitete und sofort heftige Diskussionen in der politisch interessierten Netz- und Pressewelt auslöste.

Neuerfindung des Notiz- und Tagebuchs

Blogs sind letztlich die Fortführung des Logbuchs auf dem Raumschiff Enterprise mit online-spezifischen Mitteln. So wie Captain Kirk seine Erlebnisse in der Sternenwelt aufzeichnete, nehmen Blogger ihre Sicht auf das erlebte Rundherum und die medial vermittelte Wirklichkeit auf. Die oft einzige Gemeinsamkeit der bunten "Blogosphäre" ist dabei das chronologisch geordnete Format, bei dem die "Nachrichten" des Tages ganz oben stehen und dann das lange Scrolling in die Vergangenheit beginnt. Blogs verfügen zudem über meist sehr gut gepflegte Archive, die ein Stöbern in der Kommunikationshistorie erlauben.

Die Selbstbespiegelung der Szene unterstützt ferner die zum Standard von immer mehr Netzchroniken gehörende "TrackBack"-Funktion, die - ähnlich wie der auch als "Egorati" verballhornte Dienst Technorati - Erwähnungen eines Eintrags in anderen Blogs aufspürt. Technisch unterstützt werden solche Delikatessen durch Metaformate wie XML (eXtensible Markup Language) und RSS (Rich Site Summary), die Überschriften oder Zusammenfassungen maschinenlesbar und die Inhalte des Informationsunversums besser vernetzbar machen.

Zu den Größen der Szene, über die etwa das Portal Daypop anhand der gegenseitigen Zitierhäufigkeit eine tägliche Hitparade erstellt, gehören etwa der bärtige Software-Opa Dave Winer oder der legendäre Sex-Aufklärer Matt Drudge. Ein hohes Standing genießen zudem der konservative Rechtsprofessor Glenn Reynolds alias InstaPundit von der University of Tennessee sowie als einer seiner Genossen im Geiste der Brite Andrew Sullivan mit seinem Daily Dish. In den Top Ten halten sich zudem ständig die von mehreren Autoren bestückten Nachrichtenmixer boingboing, die täglich aufs Neue ein "Verzeichnis wundervoller Dinge" erstellen, und Slashdot, das 1997 gestartete Anti-Microsoft-Pro-Linux-News-for-Nerds sammelnde Online-Refugium.

Tägliche Ration Stammtischgepolter

Auch in Deutschland ist das Bloggen populär geworden. Noch scheinen die Vorreiter der Zunft dabei häufig noch darauf angewiesen zu sein, Missverständnisse über ihr Tun und Lassen auszuräumen. "Der Schockwellenreiter rastet regelmäßig aus, wenn man Weblogs mit Tagebüchern verwechselt", wettert etwa Deutschlands wohl bekanntester Blogger, der Berliner Jörg Kantel, in der für das Genre typischen sendungsbewussten Art. Seinem Hund Zebu, seiner Gattin Gabi und den gemeinsamen Spaziergängen räumt er dennoch viel Platz in seinem "Nicht-Tagebuch" ein. Eine persönliche Note schadet ja nicht, gilt eher als Bedingung für ein gutes Blog, solange daneben noch Inhalte mit Tiefgang stehen. Beim Schockwellenreiter, der "nebenbei" EDV-Leiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin ist, handelt es sich dabei in der "täglichen Ration Wahnsinn" hauptsächlich um Computer- und Netznews sowie kleine Glossen mit lokalem Bezug zur Hauptstadt.

Thematisch umfassen auch die deutschen Weblogs inzwischen ein weites Spektrum. Das Verzeichnis B|Logs führt bereits rund 800 Einträge auf, die von a jolt of reality über die "Elementarteilchen-Schreiberin" Sophia vom Prenzlauer Berg oder Gabi's Pfötchennews alias dem Katzentreff bis zu Zwischenreichs Irgendwas ist immer reichen. Uwes Notizen vom Abgrund reihen sich an Kais Raben.Horst oder an Alexanders Wortfeld. Die einen locken ins Instant Nirvana, andere geben sich hirn&verbrannt oder wandeln auf den Spuren des InstaPundit.

Häufig vermisst man dabei einen roten Faden, aber vielleicht soll das ja gerade den Charme ausmachen. Manchmal haben aber auch themenspezifische Aufzeichnungen, etwa zu Nerds und Geeks oder zum Tod der Musikindustrie, ihre Vorzüge. Denn da weiß man als Leser wenigstens ungefähr, was einen täglich erwartet.

Politisierung von Blogs nach dem 11. September

Wirklich bekannt wurden die Blogs erst mit ihrer Politisierung im Zuge des 11. September. Zu dieser Zeit entstanden die "Warblogs", die den "Krieg gegen den Terror" und seine mediale Darstellung begleiten. Rechtskonservative Geister wie Mickey Kaus, Reynolds, Sullivan oder der in Los Angeles beheimate Rechtsprofessor Eugene Volokh waren die ersten, welche die netzöffentliche Meinungskraft der Blogs entdeckten und in eine neue Form des in den USA beliebten "Talk Radios" umwandelten. Sie dominieren bis heute das Feld.

Links von der Mitte stehende Köpfe wie Sean-Paul Kelley mit dem Agonist oder Markos Moulitsas Zúniga mit DailyKos verlegten sich erst Mitte 2002 aufs Bloggen. Im Vorfeld des Irak-Kriegs gelang es ihnen mit weiteren Gleichgesinnten aber den Begriff "Warblog" inhaltlich neu zu besetzen, indem sie sich zum gleichnamigen Meta-Blog zusammenschlossen und dort ein Nachrichtenportal für Kriegsgegner aufbauten.

Von Stefan Krempl ist soeben das Telepolis-Buch "Krieg und Internet: Ausweg aus der Propaganda?" im Verlag Heinz Heise erschienen. Dieser in zwei Teilen erscheinende Artikel basiert auf Auszügen daraus. Der Autor hat zu Themen rund um das Buch das Weblog Der Spindoktor eingerichtet.