"Lockdown verursacht immense soziale, gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden"

Finanzwissenschaftler Stefan Homburg über seine Thesen gegen die Corona-Politik, seine Kritiker und das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik

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Herr Homburg, Sie haben seit Beginn der Debatte um die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung für einige Furore gesorgt. Ein Grund dafür liegt in Ihrer inhaltlichen Kritik begründet, es ging aber auch um Ihr politisches Engagement. Würden Sie rückblickend etwas anders machen?

Stefan Homburg: Nach knapp 30 Jahren Erfahrung in der Politikberatung habe ich schon gewusst, was auf mich zukommt, wenn ich offizielle Zahlen präsentiere, die politischen Sprengstoff bergen.

Ich sehe mein Engagement aber keineswegs als politisch. Weder strebe ich ein Amt an, noch will ich bestimmte Parteien fördern oder behindern. Vielmehr beschränke ich mich auf Fakten in der Hoffnung, dass möglichst alle politischen Akteure umdenken und wieder zum Weg der Vernunft und Abwägung zurückfinden.

In einem Video-Interview mit der ehemaligen RTL-Moderatorin Milena Preradovic, auf das Sie auch in einem Beitrag für Telepolis verweisen, ist eine Ihrer zentralen Thesen, die Infektionskurve sei schon "in ganz Europa" abgeflacht. Zuletzt steigen die Zahlen aber doch wieder. Wie passt das zusammen?

Stefan Homburg: Meine These im April bezog sich auf die damalige Welle und die irrige Annahme, das Coronavirus breite sich exponentiell aus. Die Daten zeigten das genaue Gegenteil. Im Herbst sehen wir jetzt eine weitere Welle. Dies ist bei Viren nichts Ungewöhnliches, sondern normal. Auch diese Welle verläuft S-förmig und nicht exponentiell.

Anzahl gemeldeter intensivmedizinisch behandelter COVID-19-Fälle an Anzahl belegter Intensivbetten in Deutschland. (Bild: DIVI-Intensivregister)

Aber es ist doch unstrittig, dass die Infektionszahlen wieder zunehmen, ebenso wie und die Auslastung der Intensivstationen in den Krankenhäusern. Ist da es verantwortungsvoll, Entwarnung zu geben?

Stefan Homburg: Der R-Wert des RKI liegt seit Anfang November unter eins, was bedeutet, dass sich die Infektionsdynamik seit Ende Oktober abgeschwächt hat. Und die Belastung unserer Intensivstationen ist derzeit nicht höher als im August. Angesichts dieser Fakten halte ich es gerade für verantwortungsvoll, zur Beendigung des zweiten Lockdowns zu raten, der seinerseits immense soziale, gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden verursacht, die zu oft ausgeblendet werden.

"Entscheidend ist effektive Reproduktionszahl"

Damals führten sie eine RKI-Grafik an, die Sie nun erneut wiedergeben. Die Grafik zeige, dass der Reproduktionszahl schon vor dem sogenannten Lockdown im Frühjahr unter den Wert Eins gesunken sei. Dem wurde entgegengehalten, dass es ja schon vorher Maßnahmen und Appelle gab, die Sie ignorieren.

Stefan Homburg: Die Reproduktionszahl sank ab dem 11. März und lag vor dem Lockdown unter Eins, das war mein Punkt. Die Entscheidung vom 15. April, den Lockdown auf unbestimmte Zeit zu verlängern, hielt ich und halte ich nach wie vor für einen schweren Fehler. Betrachtet man den Zeitablauf detailliert unter Beachtung der Wirkungsverzögerungen, dann waren auch die Absage von Großveranstaltungen und die Schulschließungen unnötig.

Freiwillige Verhaltensänderungen können die Infektionsdynamik hingegen durchaus beeinflusst haben. Das habe ich nie in Abrede gestellt, und selbstverantwortliche Anpassungen sind ja auch politisch unstreitig.

Hätten sie nicht von vornherein die Reproduktionszahl mit der Basisreproduktionszahl vergleichen müssen, um eine belastbare Aussage treffen zu können? Die Seite Correctiv warf ihnen vor, die Basisreproduktionszahl ignoriert zu haben.

Stefan Homburg: Für die Basisreproduktionszahl existieren nach wie vor nur unsichere Schätzungen, da man anfänglich nur sporadisch testete und die Testanzahl dann drastisch erhöhte. Entscheidend für die Virusausbreitung ist aber ohnehin nicht die Basisreproduktionszahl, sondern die effektive Reproduktionszahl, und die gab eindeutig Entwarnung.

Im Interview halten Sie dem RKI vor, mit Todeszahlprognosen zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Panik geschürt zu haben. Wo stammen diese Zahlen her?

Stefan Homburg: Die genannten Zahlen stammen aus dem sogenannten Strategiepapier des Bundesinnenministeriums, das sich seinerseits in zwei Fußnoten auf das RKI bezog. Zur Erzielung einer Schockwirkung wurde dort exponentielles Viruswachstum unterstellt …

Allerdings in einem Worst-Case-Szenario.

Stefan Homburg: Ich halte das dennoch für unseriös, da sich Viren stets S-förmig ausbreiten.

"Würde manche Aussage heute natürlich anders fassen"

Sie verwiesen zur Untermauerung Ihrer These auf Euromomo. Die Statistiker dort konstatierten aber einen "deutlichen Anstieg der Gesamtmortalität".

Stefan Homburg: Der Euromomo wird jeden Donnerstag aktualisiert. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Coronawelle im Frühjahr in manchen europäischen Ländern eine höhere Übersterblichkeit ausgelöst hat als frühere Influenzawellen, in anderen Ländern wie Deutschland oder Österreich aber eine geringere Übersterblichkeit.

Würden Sie einige Ihrer Aussagen aus dem Frühjahr heute revidieren?

Stefan Homburg: Mit dem Wissen von heute würde ich manche Aussage natürlich anders fassen, denn viele offizielle Daten stehen erst später zur Verfügung oder werden rückwirkend geändert. Grundlegend revidieren müsste ich aber nichts. Insbesondere lag meine Mortalitätsschätzung in der richtigen Größenordnung, während das Bundesinnenministerium zwei Zehnerpotenzen zu hochgriff.

Die Leibnitz-Universität teilte mit, "Ihre "Meinungsäußerung (…) wurde nicht im Namen der Leibniz Universität Hannover abgegeben." Wie deuten Sie das?

Stefan Homburg: Ich deute das als Missverständnis von Wissenschaftsfreiheit, wenn nicht sogar als Eingriff. Wissenschaftler geben ihre Äußerungen niemals im Namen ihrer Universität ab, und es kommt einer Universität auch nicht zu, solche Äußerungen zu bewerten. Manager und Beamte kennzeichnen Artikel immer als persönliche Auffassung, Professoren tun das nicht. Wenn ein Mathematikprofessor feststellt, eins plus eins ergebe zwei, hat die Universitätsleitung hierzu zu schweigen.

"Wissenschaftler, der demokratische legitimierte Akteure berät"

Deutlich heftigere Kritik als in den Medien gab es von studentischen Vertretungen, die gar ihren Rauswurf forderten. Ein Grund waren auch Twitter-Kommentare wie: "Das hier IST 1933. Damals gab es keinen Krieg und keine Lager. Es wurde erst die Demonstrations- und Meinungsfreiheit abgeschafft, dann das Rechts-, Presse- und Wissenschaftssystem gleichgeschaltet. Sechs Jahre später war man dann soweit." Dabei bleiben bei dieser Einschätzung?

Stefan Homburg: Absolut, ich warne vor der Gefahr, dass wir lang erkämpfte Grundrechte aufgeben, nur weil einige Virologen Schreckensbilder an die Wand malen, die niemals eintreten, ob bei BSE, der Schweinegrippe, SARS oder jetzt Corona.

Kritisiert wurde ich aber im Wesentlichen von Antifa und AStA, nicht von meinen eigenen Studenten. Die Nachfrage etwa nach Masterarbeiten bei mir ist ungebrochen, und ich habe auch Dutzende unterstützende E-Mails meiner Studenten erhalten.

In Ihrer Vita finden wir Kontakte zu Union, SPD und einen Auftritt bei einem AfD-Parteitag 2015 in Bremen. Sehen Sie sich als Wissenschaftler oder politischer Akteur, wo definieren Sie die Grenze?

Stefan Homburg: In den vergangenen Jahrzehnten wurde ich von praktisch allen politischen Parteien eingeladen, auch von den Grünen, und als Sachverständiger des Bundestags, verschiedener Landtage oder als Mitglied der Föderalismuskommission gehört. Dabei ging es meist um Steuern, Finanzausgleich oder die europäische Währungsverfassung.

Ich sehe mich als Wissenschaftler, der nie selbst initiativ wird, sondern auf Anfrage alle demokratisch legitimierten Akteure berät. Eine derartige Beratungstätigkeit hat unvermeidlich politische Implikationen, wenn sie sinnvoll ist, aber das gilt für Ökonomen, Naturwissenschaftler und Mediziner in gleicher Weise. Je nach Äußerung der Sachverständigen sind diese oder jene Gesetzesmaßnahmen angebracht.