Nazis gegen Hitler

Otto Strasser und der Revolutionäre Nationalsozialismus

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Otto Strasser ist in der rechten Szene zum Teil beliebter als Adolf Hitler. Bei den Demonstrationen des „Nationalen Widerstands“ findet man das Zeichen des Strasser'schen „Revolutionären Nationalsozialismus“, Hammer und Schwert, auf vielen Fahnen und Transparenten. Der NSDAP-Renegat hat den entschiedenen Vorteil, sich nicht bei einem Holocaust die Finger schmutzig gemacht zu haben. Vor allem ist er im Gegensatz zu Hitler kein Bündnis mit dem Großkapital eingegangen. Die sozialrevolutionäre und antikapitalistische Ausrichtung dieses wichtigsten Theoretikers der NS-Linken macht ihn gerade für viele jüngere Neofaschisten attraktiv. Seine starke Wirksamkeit in der heutigen Rechten ist ein Grund, sich mit „Hitlers Feind Nummer 1“ (Joseph Goebbels), dessen Anhänger im „Dritten Reich“ massiver verfolgt wurden als die Kommunisten, einmal näher zu beschäftigen.

Otto Johann Maximilian Strasser (auch: Straßer) wird am 10. September 1897 in Windsheim, Mittelfranken geboren. Die Eltern sind Peter und Pauline. Die Familie hat 5 Kinder, von denen der Bruder Gregor fünf Jahre älter ist als Otto. Der Vater ist Kanzleirat am Amtsgericht in Windsheim.

Otto besucht die Realschule in Meggendorf und die Oberrealschule in München. Dann nimmt er ein Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften auf. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges bricht er sein Studium ab und meldet sich wie sein Bruder Gregor freiwillig zum Wehrdienst. Er ist 16 Jahre alt und dient als jüngster Freiwilliger Bayerns. Otto bringt es bis zum Oberstleutnant. Er erhält für seine Tapferkeit das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse.

Otto Strasser 1915

Nach seiner Demobilisierung im April/Mai 1919 beteiligt er sich mit seinem Bruder Gregor am Einsatz der Freikorps gegen die Bayerische Räterepublik. Im Juli 1919 kehren die Brüder ins Zivilleben zurück. Gregor wird Apotheker in Landshut. Bald wird er Adolf Hitler treffen.

Otto nimmt 1919 in Berlin sein Studium wieder auf. Strasser ist seit 1919 in der SPD aktiv und gründet 1920 den „Akademischen Kriegsteilnehmerverband S.P.D.“ Der Student betätigt sich beim sozialdemokratischen „Vorwärts“ als Autor.

Während des Kapp-Putsches vom 13. März 1920 wird er Ehrenpräsident des „Republikanischen Führerbundes“, der die monarchistischen Freikorps bekämpft. Im Ruhrgebiet sind aufständische sozialistische Arbeiter trotz der Zusage der Straffreiheit nach ihrer Kapitulation Vergeltungsmaßnahmen der Reichswehr ausgesetzt. Auch wurde den Arbeitern eine Nationalisierung der Großbetriebe versprochen, was die Reichsregierung nicht einhält. Erschüttert über diesen Verrat tritt Otto aus der SPD aus.

Er geht, politisch desorientiert, zurück nach Bayern. Es kommt, auf Vermittlung seines Bruders Gregor, zu einem ersten Treffen mit Hitler. Otto ist, auch menschlich, nicht gerade angetan von ihm. Er resümiert nach dem Gespräch, Hitler habe keine politischen Überzeugungen und attestiert ihm die „Beredsamkeit eines Lautsprechers“.

Strasser lernt den konservativ-revolutionären Theoretiker Arthur Moeller van den Bruck kennen, der das Wort vom „Dritten Reich“ geprägt hat, und schreibt für dessen Zeitschrift „Das Gewissen“. Bei Moeller schätzt er die Verbindung von Sozialismus und Nationalismus.

Otto schließt 1920 auch seine Promotion in Würzburg ab. Er arbeitet als Hilfsreferent im Versorgungsministerium, bis er 1923 in die Privatwirtschaft wechselt, um bald die rechte Hand des Generaldirektors eines Spirituosenkonzerns zu werden.

Nach dem Scheitern des Hitlerputsches am 9. November 1923 wird die NSDAP reichsweit verboten. Am 1. April 1924 wird Hitler zu fünf Jahren Festungshaft wegen Hochverrats verurteilt, von denen er aber nur wenige Monate verbüßt. Im Februar 1925 wird die NSDAP wiedergegründet. Gregor wird eines der ersten Mitglieder und zuerst Gauleiter von Niederbayern/Oberpfalz. Nachdem er schließlich Organisationsleiter der NS-Partei in Norddeutschland geworden ist, bittet er seinen Bruder, ihm bei der Herausbildung einer Ideologie des nationalen Sozialismus zu helfen. Otto Strasser ist von nun an der norddeutsche Chefideologe der Partei.

Hitler beginnt, in Gregor einen Konkurrenten um die innerparteiliche Macht zu sehen. Er braucht ihn aber vorerst noch. Im September 1925 kommt es zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft der nord- und westdeutschen Gaue der NSDAP“, die Vehikel des sozialrevolutionären, antikapitalistischen Flügels der Partei wird.

Radikal sozialistischer und prosowjetischer Kurs

Einer der wichtigsten Vertreter eines radikal sozialistischen und prosowjetischen Kurses ist Joseph Goebbels, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft und Redakteur des Theorieorgans „Nationalsozialistische Briefe“.

Spannungen zwischen der NS-Linken und der Münchner Zentrale zeigen sich bei der Frage der Fürstenabfindung. Auf Antrag von SPD und KPD soll ein Volksbegehren zur entschädigungslosen Enteignung der Königs- und Fürstenhäuser stattfinden, das schließlich scheitert. Die linken Nationalsozialisten unterstützen dieses Ansinnen. Hitler plädiert für eine Entschädigung der Fürsten.

Propagandawagen zur Fürstenenteignung 1926. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-00685 / CC-BY-SA.

Verhandelt wird diese Frage auf einer Tagung am 24. Januar 1925 in Hannover. Hier soll, glaubt man Otto Strasser, Joseph Goebbels sogar den Ausschluss des „kleinen Bourgeois Adolf Hitler aus der nationalsozialistischen Partei“ gefordert haben. Die versammelten NS-Funktionäre beschließen ein Zusammengehen mit den linksgerichteten Parteien in Sachen Fürstenabfindung. Sie legen ein Programm vor, dass das 25-Punkte-Programm der NSDAP aus dem Jahr 1920 antikapitalistisch präzisieren soll.

Adolf Hitler gelingt es, Goebbels aus der Front der Linken herauszulösen, als er ihn im März nach München einlädt und hofiert. Nach einer Rede des NS-Führers ist der vollends von ihm überzeugt: „Ich beuge mich dem Größeren, dem politischen Genie“, notiert er in sein Tagebuch. Ende April des Jahres gibt Goebbels seinen Übertritt zu Hitler bekannt.

Durch eine Verwaltungsreform konzentriert Hitler die Macht in der Partei auf sich. Die Gauleiter werden zum Beispiel ab jetzt nicht mehr von Gregor Strasser, sondern von Hitler direkt ernannt. Der NS-Führer erklärt, dass das 25-Punkte-Programm der Partei von nun an unabänderlich ist.

Gregor Strasser. Foto: Bundesarchiv, Bild 119-1721 / CC-BY-SA

Hitler bietet Gregor an, nach München zu kommen und hauptamtlicher Parteifunktionär zu werden. Der lehnt ab. Die Brüder gründen den „Kampf-Verlag“, in dem diverse Zeitungen und Zeitschriften wie „Der Nationale Sozialist“ und der „Sächsische Beobachter“ erscheinen. Otto wird der wichtigste Mitarbeiter, als Chefredakteur der "Berliner Arbeiterzeitung" (BAZ) und der "NS-Briefe".

Die Ernennung von Joseph Goebbels zum Gauleiter von Berlin am 9. November 1926 ist das Startsignal für eine neue Phase im Kampf gegen die Strasser-Fraktion. Goebbels schließt die BAZ, eigentlich NSDAP-Organ in Berlin, von allen parteioffiziellen Bekanntmachungen aus und behält diese seiner eigenen Publikation, dem Angriff, vor. Er sorgt dafür, dass SA-Männer Straßenverkäufer der BAZ überfallen, und schiebt die Übergriffe den Kommunisten in die Schuhe.

1928 bietet Hitler Gregor das Amt des Reichsorganisationsleiters an, um ihn zu neutralisieren. Der nimmt an, in der Hoffnung, Hitler für die sozialistische Richtung zu gewinnen. Die Frage, ob man mit den bürgerlichen Nationalisten zusammengehen soll, wird akuter. Am 12. Mai 1929 sind Landtagswahlen in Sachsen. Die NSDAP erringt 5 Sitze und ist Zünglein an der Wage. Hitler erstrebt ein Bündnis mit der bürgerlichen Rechten. Die linke NSDAP vor Ort will eine Koalition mit KPD und SPD eingehen. Die beiden Arbeiterparteien lehnen diesen Vorschlag vehement ab und machen das Vorhaben des Gauleiters von Mücke öffentlich. Hitler ersetzt daraufhin alle sozialistisch denkenden Funktionäre durch München-treue Parteimitglieder. Er lehnt nun selbst einen Eintritt in eine Koalition ab und unterstützt nur die Konservativen und die Deutsche Volkspartei (DVP). Dieser relative Rückzug Hitlers bedeutet keinen Sieg der NS-Linken, weil sie alle ihre parteiinternen Stützpunkte in Sachsen verliert und vor allem, weil die NSDAP ein Bündnis mit der bürgerlichen Rechten eingeht.

Hitler: "Das ist reiner Marxismus!"

Am 8. Dezember erringt die NSDAP bei den Landtagswahlen in Thüringen 6 Sitze, worauf sie sich mit der „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP), der DVP und dem Landbund zum ersten Mal an einer Landesregierung beteiligt. Für Otto ist das Verrat an den revolutionären Idealen der Partei.

1929 heiratet Otto Strasser seine Frau Gertrud, mit der er zwei Kinder haben wird.

Die NSDAP und vor allem die Strasser-Presse unterstützt im April 1930 einen Streik der Arbeiter in der Metallindustrie von Sachsen. Industrielle drohen Hitler deshalb mit der Einstellung ihrer finanziellen Zuwendungen an die Partei. Der gibt den Befehl, den Streik zu beenden. Das leitet neben der Frage der Regierungsbeteiligung den endgültigen Bruch zwischen den Fraktionen ein.

Am 21./22. Mai 1930 kommt es zu einer letzten Aussprache zwischen Otto Strasser und Hitler. Der NSDAP-Führer bietet an, das Verlagshaus der Brüder zu kaufen. Otto Strasser kann Abgeordneter werden. Der lehnt ab. Hitler besteht auf der Auflösung des Kampf-Verlages. Sonst werde den Parteimitgliedern die Lektüre von und Mitarbeit an dessen Publikationen verboten und die Strasser-Gruppe aus der Partei ausgeschlossen.

Otto Strasser spricht sich für den deutschen Sozialismus, die Nationalisierung und Sozialisierung der Wirtschaft, aus. „Das ist reiner Marxismus!“, entfährt es Hitler. Er erklärt, nach der Machtübernahme Großbetriebe wie Krupp nicht antasten zu wollen.

Nach dieser Auseinandersetzung wartet der Führer der NSDAP erst einmal ab. Er will vor den Landtagswahlen in Sachsen keine negative Publizität. Am 22. Juni 1930 triumphiert die Partei in Sachsen. Sie hat die Zahl ihrer Wählerstimmen gegenüber 1929 verdreifacht. Jetzt ist es für Hitler Zeit zu handeln.

Am 30. Juni befiehlt er Goebbels, die Partei rücksichtslos zu säubern. Schon vorher, im ganzen Juni, werden verschiedene Strasser-Anhänger, wie der Chefredakteur des Sächsischen Beobachters, Richard Schapke, aus der Partei ausgeschlossen.

Otto Strasser erfährt an diesem Tag auch, dass Gregor alle Ämter beim Kampfverlag niederlegt. Der Bruder entscheidet sich, wie dann viele Andere von der NS-Linken, für Hitler.

Am 4. Juli erscheint der Aufruf Die Sozialisten verlassen die NSDAP. Neben Ottos Unterschrift steht unter diesem Manifest noch die von 25 anderen Parteimitgliedern. Führungskader aus der ersten Reihe der Partei befinden sich darunter fast nicht.

Gregor Strasser distanziert sich öffentlich von Schritt seines Bruders. Er bekundet seine volle Loyalität gegenüber Adolf Hitler.

Am 6. Juli wird offiziell die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten“ (KGRNS) gegründet. Gerade einmal 800 Mitglieder der NSDAP laufen über. Ende Mai 1931 wird die KGRNS aber immerhin ungefähr 6000 Mitglieder und 90 Stützpunkte haben.

Der Kampf-Verlag wird zum 1. Oktober geschlossen. Im Dezember werden die Tageszeitung und alle anderen Publikationen eingestellt. Strasser-Organ wird jetzt die Wochenzeitung „Die Deutsche Revolution“.

Die KPD veröffentlicht eine „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“, in der die Kommunisten sich einer betont nationalistischen Rhetorik bedienen und gegen den Versailler Vertrag polemisieren. Stimmen aus der Kampfgemeinschaft halten ein Bündnis mit der KPD für möglich. Strasser ist skeptisch. Es gibt aber viele Überläufer von der KGRNS zur KP, auch Führungskräfte. Insgesamt werden über 40 Prozent der Revolutionären Nationalsozialisten bei den Kommunisten enden.

Attentat auf Strasser und Stennes-Revolte

Die NSDAP legt gegenüber ihren Renegaten eine sehr aggressive Haltung an den Tag. Die Veranstaltungen der KGRNS werden regelmäßig von der SA gesprengt. Es kommt in Bamberg zu einem Attentat auf Strasser. Zeitweise ist es nur möglich, unter dem paramilitärischen Schutz der Kommunisten Treffen abzuhalten. Manche KGRNS-Ortsgruppen treten zu ihrer Sicherheit dem KP-nahen „Kampfbund gegen den Faschismus“ bei.

Die Unzufriedenheit unter NSDAP-Anhängern zeigt sich in der Stennes-Revolte von 1931. Die SA ist unzufrieden angesichts schlechter materieller Ausstattung und des legalistischen Kurses der NS-Führung. Walther Stennes, Oberbefehlshaber der SA in Ostdeutschland, setzt sich an die Spitze der Unzufriedenen. Die Revolte greift auf das ganze Reich über, sodass am Schluss 8000 bis 10000 Parteimilizionäre involviert sind. Zeitweise kommt es zu einer Vereinigung zwischen Strasser- und Stennes-Leuten in der „Nationalsozialistische Kampfgemeinschaft Deutschlands“ (NSKD). Am 12. September 1931 trennen sich die Gruppen aber schon wieder.

Im September gründet Strasser die Zeitschrift „Schwarze Front“. Das wird auch der Name einer Dachorganisation von rechtsorientierten Gruppen, die eine Einheit der ganzen nicht in der NSDAP organisierten Rechten erreichen will. Die Schwarze Front umfasst zum Beispiel die Stennes-Organisation, die soldatischen Wehrbünde „Wehrwolf“ und „Bund Oberland“, den nationalbolschewistischen „Widerstands-Kreis“ des Ernst Niekisch, Gruppen aus der Bündischen Jugend, solche aus der Bauernbewegung des Landvolks oder den Kreis um das konservativ-revolutionäre Theorieorgan „Die Tat“. Mancher ist aber nur Mitstreiter auf Zeit. Später werden die Begriffe KGRNS und Schwarze Front fast synonym gebraucht werden.

Inzwischen verschärft sich die Rivalität zwischen Hitler und Gregor Strasser. Reichskanzler Kurt von Schleicher bietet im Dezember 1932 dem Organisationsleiter der NSDAP die Vizekanzlerschaft und das Amt des preußischen Ministerpräsidenten an, um die NSDAP zu spalten und eine Querfront durch alle politischen Lager unter Einbeziehung des linken Flügels der NS-Partei zu bilden. Dieses Vorhaben scheitert auch daran, dass Gregor Strasser letztlich die Kraft und Entschlossenheit fehlt, sich gegen Hitler zu positionieren. Am 8. Dezember tritt Gregor Strasser von allen Parteiämtern zurück und flüchtet ins Privatleben.

Verfolgung und Exil

Der Sturz General von Schleichers und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trifft die KGRNS völlig unvorbereitet. Sie begrüßt diese Entwicklung zuerst, weil sie angeblich die sozialistische Revolution näherbringt. Am 15. Februar 1933 wird die Schwarze Front verboten. Es beginnt eine Zeit intensiver Verfolgung. 1935 werden über 500 Aktivisten der KGRNS in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern des Hitler-Regimes einsitzen.

Die Hoffnung auf eine „Zweite Revolution“ unter Einbeziehung der SA zerschlägt sich endgültig, als Ende Juni/Anfang Juli 1934 im sogenannten „Röhm-Putsch“ SA-Stabschef Ernst Röhm und andere Führer des NS-Wehrbundes und unter anderem auch Gregor Strasser liquidiert werden.

Otto Strasser organisiert die Widerstandstätigkeit der KGRNS zuerst von Österreich, ab Mitte 1933 von der Tschechoslowakei aus. Es wird eine intensive Propagandatätigkeit ins Reich hinein mit Untergrund-Broschüren und Zeitschriften wie dem „Schwarzen Sender“ betrieben. Strasser gründet in der Tschechoslowakei das „Aktionskomitee der Deutschen“, das in ziemlicher Selbstüberschätzung eine „deutsche Regierung im Exil“ sein will. Er befleißigt sich jetzt eines demonstrativen Philosemitismus.

In der Tschechoslowakei steht Strasser unter Polizeischutz. Es kommt während der Zeit des „Dritten Reiches“ zu mehreren Attentatsversuchen auf ihn durch die Gestapo. Es wird versucht, Strasser zu entführen. Rudolf Formis etabliert in der Tschechoslowakei einen Rundfunksender der Schwarzen Front, der im Reich viele Hörer hat. In der Nacht von 23. auf den 24. Januar 1935 wird er von einem Kommando der Gestapo erschossen.

1938 veröffentlicht Strasser mit Kurt Hiller, dem homosexuellen jüdischen Autor der „Weltbühne“, die nationalrevolutionäre „Prager Erklärung“. Die Schwarze Front zerfällt in diesem Jahr faktisch, nachdem sich ihr Organisationsleiter Friedrich Beer-Grunow von Strasser lossagt. Kurz darauf wird er von der Gestapo ermordet. Im Herbst siedelt Strasser in die Schweiz über.

1939 wird er von der Seite des Deutschen Reiches zu Unrecht beschuldigt, das Attentat von Georg Elser auf Hitler in Auftrag gegeben zu haben. Man setzt eine Belohnung von einer Million Reichsmark auf ihn aus.

Am 30. Januar 1941 gründet er die „Frei-Deutschland-Bewegung“. Das ist ein weiterer Versuch, im Widerstand der Emigranten gegen Hitler eine Rolle zu spielen. Er bekennt sich jetzt zur Demokratie.

Im April 1941 siedelt er nach Kanada über. Vorher hat er sich zeitweise auch kurz in Frankreich und Portugal aufgehalten.

Nach der Befreiung vom Faschismus sammeln sich Strassers politische Freunde 1948 im „Bund für Deutschlands Erneuerung“ (BDE). Die westdeutschen Behörden verweigern ihm die Einreise in die Bundesrepublik. 1952 verklagt er das Bundesinnenministerium vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Das gibt ihm schließlich recht, sodass er am 16. März 1955 einreisen kann.

Am 17. Juni 1956 wird die „Deutsch-Soziale Union“ (DSU) gegründet. Seine politische Konzeption bezeichnet Strasser jetzt als „Solidarismus“. 1960 beantragt Otto finanzielle Entschädigung als Verfolgter des Naziregimes. Das Justizministerium von Baden-Württemberg kommt aber zu dem Ergebnis, dass die Schwarze Front die gleichen Ziele wie die NSDAP verfolgt habe. Auch sei Strasser nie im Gefängnis oder KZ gewesen. Deswegen wird der Antrag abgewiesen.

Am 24. und 25. März 1962 beschließt die politisch erfolglose DSU, nachdem sie Strasser zeitweise verlassen hatte, ihre Selbstauflösung.

Am 27. Februar 1971 heiratet er seiner zweite Frau Renate. Ein später Lebenshöhepunkt wird für ihn eine Vortragsreise in den Vereinigten Staaten im März 1971. Er spricht bei großem Medieninteresse vor insgesamt 10000 Menschen.

Am 27. August 1974 stirbt Otto Strasser in München.

Nationalsozialismus als antiimperialistische und antikapitalistische Bewegung

Die programmatischen Grundlagen des Revolutionären Nationalsozialismus lassen sich aus den Manifesten "Die Sozialisten verlassen die NSDAP" vom 4. Juli. 1930 und „14 Thesen der Deutschen Revolution“ vom 26./27. Oktober 1930 ermitteln.

Die Strasseristen verstehen den Nationalsozialismus als antiimperialistische Bewegung. Das bedeutet eine klare Parteinahme gegen jeden Interventionskrieg gegen die Sowjetunion sowie die Solidarität mit dem Kampf des indischen Volkes gegen die britische Herrschaft.

Der Strasser'sche Nationalsozialismus ist gegen das Prinzip der Erbmonarchie und für eine deutsche Republik. Er lehnt sowohl einen faschistischen Obrigkeitsstaat wie auch die formale parlamentarische Demokratie zugunsten einer ständischen Verfassung der Gesellschaft ab.

Der Nationalsozialismus Otto Strassers ist „die große Antithese des internationalen Kapitalismus“. Sozialismus im Strasser'schen Sinne ist „Anteilnahme der Gesamtheit der Schaffenden an Besitz, Leitung und Gewinn der ganzen Wirtschaft“ [der] „Nation“. Das bedeutet die „Brechung des Besitzmonopols des heutigen kapitalistischen Systems und vor allem [...] Brechung des Leitungsmonopols, das heute an den Besitztitel gebunden ist.“ Strasser spricht sich auch dafür aus, dass Grund und Boden nationalisiert werden.

Die einseitige Positionierung der NSDAP gegen den Marxismus ist eine „Halbheit“. Es braucht eine Äquidistanz zum Marxismus wie zum Kapitalismus, die beide Kinder des Liberalismus sind.

Auch im Weltbild der Strasser-Anhänger hat der Antisemitismus seinen Platz: Es gilt ihr „Kampf dem Judentum, das im Verein mit den überstaatlichen Mächten der Freimaurerei und des Ultramontanismus teils aus Artzwang, teils aus Willen das Leben der deutschen Seele zerstört.“

Unbehagen verursacht den Revolutionären Nationalsozialisten, dass Hitler die Nähe zur bürgerlichen DNVP sucht, zu „führenden Kreisen der Unternehmer- und Kapitalistenschaft“.

In der Kritik steht der Reformismus und Legalismus der NSDAP-Führung. Die Revolutionären Nationalsozialisten beklagen die „Verbürgerlichung der Bewegung“ und „eine Verbonzung der Partei“, die sich auch in Haltung und Lebensführung der hohen Parteifunktionäre zeigt. Die materielle Abhängigkeit der Führer von der Partei führt zu einer „Atmosphäre byzantinischer Würdelosigkeit“.

Aus all dem ziehen sie, auch weil sich eine Säuberungswelle in der NSDAP gegen sie ankündigt, die Konsequenz einer organisatorischen Trennung.

Otto Strassers Nachwirkung im heutigen Rechtsradikalismus ist enorm. Antikapitalismus ist unter Rechten sehr en vogue. Die NPD, die immer starke strasseristische Strömungen beherbergte, punktet vor allem im Osten Deutschlands mit Sozialkritik und sozialistischer Rhetorik. Weiterhin spielen sowohl in der Theorie als auch gerade in der ästhetischen Selbstinszenierung der „Freien Kamerad-schaften“ und der „Autonomen Nationalisten“ Elemente des Revolutionären Nationalsozialismus eine große Rolle.

In England war der Strasserismus in der „National Front“ (NF) der frühen 70iger und frühen 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts eine prominente Position. Ehemalige Aktivisten der NF wie der „Nationalanarchist“ Troy Southgate, der ein Buch mit dem Titel „Otto Strasser: The Life and Times of a German Socialist“ geschrieben hat, führen heute diese Tendenz weiter.

Auch in vielen anderen Ländern, wie in Frankreich, den USA oder Russland, ist eine solche Orientierung unter Rechtsextremen zu beobachten. Die Frage, ob sich die Gebrüder Strasser oder Hitler im Bewusstsein der radikalen Rechten durchsetzen, ist also noch lange nicht entschieden.