Politikpandemie

Die amerikanische Politik vor den Wahlen: Zwischen Populismus, "state capturing" und Systemkampf-Rhetorik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kurz vor den Wahlen überdeckt Trumps Covid-19 Erkrankung vieles. Wichtiger ist aber der Zustand der amerikanischen Politik. Über Trump und seine Entourage wurde viel gesagt; weit weniger über seine Gegner, die Demokraten.

Mit den Präsidentschaftswahlen vom 3. November stehen die USA erneut an einer Wegscheide. Unabhängig vom Kampf Trump gegen Biden hat die Entfernung von der Mitte auf allen Seiten des politischen Spektrums ein bedenkliches, ja kritisches Niveau erreicht. Das gilt sowohl für Republikaner wie Demokraten; und es gilt vor allem für beider Flügel. Diese sind seit Beginn der Trump-Ära am 20. Januar 2017 in beiden Großparteien deutlich stärker geworden, während die Mitte austrocknete.

Eine Entwicklung ist dabei besonders besorgniserregend. Während die Republikanische Partei im Sog von Donald Trump und seiner kompromisslosen Diskreditierungs- und Aussortierungspolitik gerade in den eigenen Reihen zwangsläufig nach rechts gewandert ist, ist die Demokratische Partei nach dem überraschenden, ja traumatischen Verlust der Wahl durch Hillary Clinton und den folgenden Selbstzweifeln in einen strategielosen Taumel geraten, der ihr eine Niederlage nach der nächsten gegen Trump eingebracht hat.

Das hat sie sehr weit nach links gerückt - so weit, dass sie, paradoxerweise weiterhin von sehr reichen Personen wie Nancy Pelosi (80) oder Charles "Chuck" Schumer (69) geführt, in substantiellen Aspekten mittlerweile weiter links als die europäische Sozialdemokratie steht. Sie gebiert sich auch radikaler - und zwar sowohl in Rhetorik wie konkreten politischen Forderungen.

Die immer kompromisslosere Rhetorik von Polarisierung und ideologischem "Kampf um die Grundlagen Amerikas" stellt diese in der Realität erst her. Sie führt auf allen Seiten zur politischen Vereinnahmung von Sachthemen und demokratischen Vernunftprozessen bis an die Grenzen der institutionellen Ordnung - zum Schaden des amerikanischen Bürgers und der Handlungsfähigkeit der US-Demokratie. Obwohl Europäer dies meist einseitig Trump zuschieben, haben beide Seiten daran Anteil, wobei man natürlich darüber streiten kann, wer die Henne und wer das Ei ist.

Trump schiebt den desolaten Zustand der US-Demokratie, in der der Dialog zwischen links und rechts weitgehend abgebrochen ist, der Ära Barack Obamas und dem seit seinem Sieg 2016 massiv verschärften Linksdrall der Demokraten zu. Dagegen schieben die Demokraten alles auf die Person Trump, weniger auf die Republikanische Partei - womit sie allerdings das Spiel Trumps spielen wie in so vielen Aspekten.

Die Demokraten heben Trump mittels personaler Dämonisierung auf einen Sockel und drängen die Republikanische Partei ins Abseits, obwohl es auch dort viele Trump-Gegner gibt, statt Dialektik und Dialog mit der Republikanischen Partei zu pflegen und diese damit gegenüber einem Präsidenten aufzuwerten, der nie ein Parteimensch war.

Wenn Donald Trump die "3 Ps" des Populismus: Personifikation, Provokation, Popularität perfekt, weil instinktiv beherrscht und seit jeher von ihnen lebt, dann ist es ein fortgesetzter, und als solcher unverzeihlicher Fehler der Demokraten, dies durch die Fokussierung auf die Person der Präsidenten im Effekt ständig weiter zu verstärken. Man reagiert - wie die Mainstream-US-Medien - regelmäßig auf Provokationen Trumps durch Personifikation wie das Kaninchen auf die Schlange und verstärkt dadurch seine Popularität.

Und die Demokraten machen den Fehler, auch in Sachfragen auf Trumps sehr genau vorkalkulierte Spiele einzugehen - und sich dadurch in der Wahrnehmung der US-Öffentlichkeit ähnlich wie der Präsident des Verdachts des "state capturing" auszusetzen, also der parteipolitischen Vereinnahmung der US-Demokratie. Die in der tiefsten Krise ihrer Nachkriegsgeschichte befindlichen Demokraten meinen, selbst populistische Signale senden zu müssen, um den Populismus des Präsidenten zu konterkarieren - und gehen damit das Risiko ein, als Populismus-Laie gegen den Profi zu verlieren.

Nur ein Beispiel? Am 10. September blockierten die Demokraten im Parlament ein neues Corona-Hilfspaket des Präsidenten, das staatliche Unterstützungen von 300 Milliarden US$ vor allem für Mittelstand, Klein- und Mittelunternehmen sowie Arbeiter vorsah. Damit blieben zehntausende Familien ohne Einkommen, und eine Vielzahl kleinerer Unternehmen ging pleite. Das traf viele traditionelle Demokraten-Wähler. Die Demokraten, die das Repräsentantenhaus kontrollieren, verwiesen zur Begründung der Blockade darauf, dass der US-Staat das Zehnfache, nämlich 3 Billionen US$, mobilisieren müsse - entweder alles oder nichts.

Bedenkt man, dass die Administration Trump bereits bis Juli 3 Billionen US$ an Hilfsgeldern mobilisiert hatte, und stellt man das in den Kontext des US-Staatsbudgets von 4,6 Billionen US$ (für 2021 geplant: 4,8 Billionen US$), von dem etwa 60% verpflichtend (mandatory spending) in Sozialleistungen wie Medicare (allgemeine medizinische Grundversorgung), Sozialversicherung und Essenszuschüsse für Bedürftige (Supplemental Nutrition Assistance Program) und 705 Milliarden nicht verpflichtend (discretionary spending) in die Verteidigung gehen, dann mutet das vonseiten der Demokraten ähnlich überzogen und kompromisslos an wie Trumps Reduktion.

Diese geht auf sinkende Arbeitslosigkeitszahlen sowie auf den Druck des konservativen Flügels der Republikaner zurück, deren Mehrheit auch in Pandemie-Zeiten die Regierung grundsätzlich so klein wie möglich halten will und staatliche Zuschüsse im individualistischen und konkurrenzkapitalistischen System der USA grundsätzlich ablehnt.

So stimmte etwa der konservative Abgeordnete Rand Paul im Senat gegen das eigene Republikanische 300-Milliarden-Paket, weil er glaubt, in den USA sei der Staat bereits zu präsent im Leben der Bürger und Zuschüsse grundsätzlich sozialistisch - und damit in Gefahr, Amerikas libertäres Fundament zu verschieben.

Interessanterweise begründete er dies mit seiner Opposition gegen den Populismus auf allen Seiten, der sowohl auf republikanischer wie demokratischer Seite die vernünftige Mitte verlassen habe. Dieses Argument war auch der Grund dafür, warum der Republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConell, im Juli einen Kompromissvorschlag von 1 Billion US$ nicht einmal zur Abstimmung bringen konnte, weil ihm die eigene Partei die Gefolgschaft versagte.

Der mit den November-Wahlen scheidende Republikanische Senator Pat Roberts (84) brachte die Stimmung auf den Punkt: "Wir befinden uns in einer Sackgasse. Wir haben heute in den USA eine Pandemie der Politik - einen Virus, der alle und jeden ansteckt." Gemeint ist ein Virus der Polarisierung und der Unvernunft, der den Staat für Parteipolitik vereinnahmt und die Demokratie aushöhlt.

Zum Vergleich: In Deutschland machen Staatsausgaben 45,40% des BSP aus, in den USA 34%, bei letzteren allerdings nur, wenn man alle Staatsausgaben, also auch die der einzelnen Staaten einberechnet. Deutschland hat laut Bundes-Finanzministerium 453,3 Milliarden Euro eingeplant, um die Corona-Wirkungen abzufedern, wozu Garantien von 819,7 Milliarden kommen. Insgesamt sind rund 1,4 Billionen Euro über mehrere Jahre eingeplant, wobei die Corona-Pandemie den deutschen Staat laut Schätzung der Deutschen Bank letztlich insgesamt 1,9 Billionen Euro kosten könnte. Setzt man das in Relation zum US-Kontext, dann waren die bisherigen finanziellen Maßnahmen der Trump-Administration einigermaßen angemessen.

Die Demokraten wollen das jedoch noch übertreffen, und zwar innerhalb weniger Monate und mittels einer ähnlichen Instrumentalisierung der Coronavirus-Krise, wie sie der Präsident von Anfang an und systematisch praktizierte. Sie drängen damit tendenziell auf einen stärkeren Staat als je in der US-Geschichte, einen ähnlich jenem der europäischen Wohlfahrtsstaaten - jedoch in einer konkurrenzkapitalistischen Gesellschaft mit traditionell "kleiner Regierung".

Das Argument, dass es eben wegen des Fehlens europäischer Wohlfahrts-Grundmuster nun mehr Geld als Europa in die Hand zu nehmen gelte und Amerika wegen wachsender Ungleichheit mittelfristig ohnehin europäisiert werden müsse, ist für die meisten Amerikaner jedoch nur eingeschränkt gültig. Die meisten wollen Amerikaner bleiben, obwohl die Ungleichheit tatsächlich bereits seit den 1990er Jahren, und unabhängig von Trump, außer Kontrolle geraten ist.

Komplizierte Situation bei den Demokraten

Mit ihrer Linksstrategie strebt die Demokratische Partei aus Sicht der Trump-Anhänger nichts weniger als einen (unverzeihlichen) Systembruch an, was sie selbst jedoch als (unvermeidliche) Systementwicklung ansieht - was die Unversöhnlichkeit der politischen Entzweiung mit Stadtviertelbesetzungen, anhaltenden Unruhen und Plünderungen in vielen Großstädten mit Toten und Radikalisierung zunehmender Teile der Bürgerschaft mit erklärt.

Dazu kommen Merkmale der Zerrüttung und des inneren Niedergangs, die auf Seiten der Demokraten der verlorenen Wahl, der ständigen Zermürbung durch Trump und der Niederlagen-Serie seit 2016 geschuldet sind. Unter diesen Symptomen sind

  • Überalterung: Der Demokraten-Kandidat Joe Biden wäre der älteste Präsident der US-Geschichte, er wäre bei Amtsantritt 78 Jahre alt.
  • Elitismus: Die Demokraten meinen sich im Besitz von Kosmopolitismus und intellektueller Vorherrschaft, beherrschen allerdings nur die US-Küsten, während die Republikaner die "heartlands", also die ruralen Binnengebiete, kontrollieren und sich dabei als Hüter "uramerikanischer Werte" wie self-reliance und Religion betrachten.
  • Moralisierung: Demokraten sehen sich als die einzigen Verteidiger der Verfassung gegen deren Verfälscher, die "anderen", nämlich die immerhin etwa 50% Republikaner- und Trump-Wähler, die Hilary Clinton als "Kübel der Kläglichen" ("basket of deplorables") bezeichnete, was der Partei schadete wie wenig anderes, weil sie ihre an sich in dieser Form unamerikanische Ausschluss-Ideologisierung unterstrich.
  • Establishment: Der Einfluss reicher Großfamilien im Hintergrund ist nach wie vor stark, wie etwa der Clintons mittels ihrer Think-Tanks, darunter das "Center for American Progress" in Washington DC.
  • Radikalisierung: Die jüngste Generation der Partei ist in der öffentlichen Wahrnehmung von Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund geprägt, die das US-System kritisch sehen und in den Grundlagen verändern wollen, so wie etwa die 30-jährige Alexandria Ocasio-Cortez (oder AOC), die von der Trump-kritischen "New York Times" zur "Zukunft der Partei" erklärt wurde. Sie macht sich unter anderem für die weitgehende Reduktion oder gar lokale Abschaffung der US-Polizei sowie für die Legalisierung illegaler Immigration stark. Zum Beispiel äußerte sie während der Corona-Krise zur Frage der Reduzierung oder gar Abschaffung der nach 9/11 übermilitarisierten Polizei, "dann werden sich die US-Städte wie [reiche] suburbs anfühlen".

Während die Republikanische Partei - auch aufgrund des Pro-Trump-Drucks der ihr eigentlich nahestehenden Netzwerke wie Fox News - ihren tristen Zustand einer "Schweigenpartei und Feigenpartei" unter Donald Trump nicht verheimlichen kann, der in ihr allenthalben Feinde ortet und zu vernichten sucht, braucht sie diesen Zustand allerdings auch nicht besonders zu verbergen. Denn die Person Trump überstrahlt bei den Wählern alles.

Dagegen ist die Situation bei den Demokraten komplizierter. Die Demokratische Partei ist nach Trumps Wahl von einer vernichtenden Niederlage in die nächste und vom Regen in die Traufe getaumelt - auch aus eigener ideologischer Vereinseitigung unter der "schwachen" Führung Pelosis und der jugendnahen Strahlkraft des selbsternannten "amerikanischen Sozialisten" Bernie Sanders, damit verbundenen Märtyrer- und Heilsillusionen sowie emotionaler Übereilung von Urteils- und Entscheidungsfindungen. So hat sie sowohl die jahrelange Untersuchung zur angeblichen Russland-Verwicklung bei den Wahlen 2016 wie den Impeachment-Prozess gegen Trump, der ihn den Großteil seiner ersten Amtszeit begleitete, nicht knapp, sondern krachend verloren.

In der Wahrnehmung der amerikanischen Mitte-Wähler ist die Demokratische Partei vor den Wahlen 2020 eine Mischung aus taktischem Machterhalt des Establishments und unglaublicher Naivität einer neuen, tendenziell stark linkslastigen Generation unter 50 mit Migrationshintergrund wie "der Rotte" (the squad), bestehend aus der Gruppe der weiblichen und "farbigen" (of color) US-Repräsentantenhaus-Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar, Ayanna Pressley und Rashida Tlaib. Diese fallen unter anderem durch hartnäckig und wiederholt anti-israelische Statements auf. Ilhan Omars Tweet-Konto verbreitete sogar das Motto: "Not today, Satan", wobei "Satan" eine feindliche anti-amerikanische Bezeichnung in radikalen Teilen der muslimischen Welt ist.

Trumps Krieg gegen den elitären Technologie-, Bildungs- und Kapitalbereich

Dazu kommt zuguterletzt - neben Ansätzen zu "state capturing" wie Wahlkampf aus dem Weißen Haus (Trump) versus vertrauliche Informationen von Spitzenbeamten (Demokraten) oder Politisierung der amerikanischen Post durch beide Großparteien - die Erosionswirkung von Trumps ausdrücklich erklärtem, öffentlichkeitswirksam inszenierten und tagtäglich ins Werk gesetzten "Systemkampf". Trumps Krieg gegen bislang unantastbar geglaubte, mächtige US-Eliteuniversitäten wie Harvard, Princeton, Stanford oder Yale, die meist an den "blauen" (mehrheitlich Demokratischen) Küsten liegen, beruhen auf dem dreifachen Vorwurf, dass diese Universitäten und das Erziehungssystem in ihrem Schlepptau das Establishment und dessen System an der Wurzel stützen, durch Kapitalmacht ein Klassensystem innerhalb des Universitäts- und Erziehungsbereichs errichtet haben sowie Bildung zur Ware machen, die sich der amerikanische Durchschnittsbürger nicht mehr leisten kann.

Dieser Krieg zielt darauf, das anzugreifen, was Trump als umfassend dekonstruktivistische (eben von den progressiven Küsten ausgehende) Linksbildung der neuen Generationen versteht, die zum Standard geworden sei und dabei grundamerikanische Systemeigenschaften unterminiere. Gleichzeitig liegt Trump aber auch mit großen Teilen von Wall Street im Krieg, der er vorwirft, eine Globalisierung auf Kosten der amerikanischen Bürger wegen eigener egoistischer Profitgier mit amerikanischem Kapital zu fördern. Dazu kommt als dritter im Bunde der hyper-globalisierte Technologiebereich im Dunstbereich von Silicon Valley, der mit beiden zusammenspiele - weshalb Trump zum Feind von Twitter, Apple, Yahoo, Microsoft und vor allem Amazon geworden ist.

Alle drei, elitärer Technologie-, Bildungs- und Kapitalbereich, hängen aus Trumps Sicht sowohl systembildend wie systemstabilisierend zusammen - und benachteiligen den "kleinen Mann" außerhalb der großen Zentren und im Landesinneren immer mehr. Die wohlhabende intellektuelle Schicht, die aus solcher Überlappung zwischen Technologie, Bildung und Kapital hervorgeht, von und in ihr lebt und - laut Kritikern wie etwa Joel Kotkin - linksliberale Agenden mit geradezu religiöser Inbrunst und Sendungsbewusstsein mittels Meinungshoheit durchdrückt, um ihre eigene Position zu affirmieren, nennen die Trumpianer mit Kotkin den "neuen Klerus".

Dass Trump sich in solch kompromissloser, fortgesetzter und offener Weise mit all diesen Systemkomponenten der USA zugleich anlegt, um - wie er es darzustellen beliebt - das System zu seinen Wurzeln zurückzuführen und dadurch Amerika zu revitalisieren, ist in der Geschichte des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg einmalig. Die einsame und zum Teil - je nach Sichtweise - manische Konsequenz Trumps ist paradox. Denn er selbst verdankt dem Großkapital seine Existenz, hat sich als Unternehmer im Bildungsbereich versucht und war zudem vor seiner Annäherung an die Republikaner ein Demokrat.

Trumps Position steht dabei im Gegensatz zur in mancherlei Hinsicht noch paradoxeren Position der US-Demokraten. Diese kritisieren aus ihrer Linksposition heraus grundsätzlich dieselben Aspekte wie Trump bereits seit Jahrzehnten, stammen selbst aber großteils eben aus jenen elitären Bildungseinrichtungen, in die sie nicht zuletzt durch Einfluss, Macht und Kapital kamen. Viele der heutigen Demokraten sind mit deren Wirtschaftsablegern wie Silicon Valley und Teilen von Wall Street eng verbunden - sowohl privat wie karrieremäßig.

"Harte" Trump-Kritiker wie der CNN-Journalist Chris Cuomo, der Bruder des Gouverneurs von New York, Andrew Cuomo, haben in Yale studiert und vertreten eine umfassende intellektuelle Linksagenda, während sie gleichzeitig einen reichen Establishment-Lebensstil führen und privat elitäre Beziehungen pflegen. Während sie Amerikas Missstände in den entscheidenden Aspekten offenlegen, darunter den faktischen Alltags-Rassismus, verteidigen sie das Vor-Trump-System und wollen es, wo immer es geht, unter dem Stichwort "Re-Barackisierung" restaurieren.

Deshalb wirft ihnen Trump vor, das sei ein Widerspruch, der auch dazu diene, eine durch seine Dynamik-Infusion verlorene "Stabilität" wiederherzustellen, die nicht zuletzt dazu diene, ihre eigene Position an der Spitze eines Systems zu garantieren, das er in Gefahr gebracht habe. Die wütende Reaktion der Medien, die vor allem auf liberaler Seite ebenfalls mit dem Bildungs-Technologie-Kapital-Nexus verwoben sind (wie CNN, der New York Times oder der Washington Post seines Erzfeindes Jeff Bezos), legitimiert aus Sicht seiner Anhänger die Delegitimierungs-Strategie Trumps.

Die amerikanische Linke, und zwar sowohl die implizite wie die explizite, liefert damit Donald Trump ungewollt ständig Argumente und Fakten für seine Wiederwahl. Ja, es ist vor allem sie, die ihn faktisch am politischen Leben erhält - mit der Verteidigung wochenlanger Unruhen in US-Städten, des Versprechens auf Einschränkung oder gar Änderung von Verfassungsrechten (wie Bewaffnung, Selbstverteidigung), der Entkriminalisierung illegaler Einwanderung und der Verharmlosung des Drogennotstands (opioid crisis) mittels System- statt Täter-Zuschreibung.

Ein Emblem für diesen Zustand ist Bidens Vize-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris: Sie ist reich, "stark" links, zugleich dem Wall-Street-Establishment und den globalisierten Silicon-Valley-Großfirmen verbunden wie kaum eine Demokratin vorher. Sie, die mit ihren vormaligen politischen Förderern wie dem ehemaligen Bürgermeister von San Francisco fast ausnahmslos in Todfeindschaft liegt, will 16-Jährige wählen lassen, verhöhnt sie zugleich hinter den Kulissen aber als "unglaublich dumm". Harris pocht offen auf "linke" Meinungs- und Paradigmenherrschaft, sagt: "Wenn Biden gewinnt, werden wir unsere Interessen durchsetzen." Was aber meint sie mit "unsere Interessen"?

Viele Amerikaner in den "heartlands" sehen das als die Interessen reicher globalisierter Großfirmen mit einer scheinheiligen Partizipations-Agenda, die Arbeit global auslagern auf Kosten des amerikanischen Mittelstands und sich aufgrund ihrer Globalisierung längst nicht mehr um die Interessen des Durchschnittsamerikaners kümmern. Was auch 2020 den klassischen Trump-Wähler des Landesinneren neu hervorbringt.

Vor dem Hintergrund des Spiels Harris' mit politischer Korrektheit zwischen alternativem "Linkspopulismus" und Establishment glauben viele mittlerweile auch im Demokratischen Lager, dass Biden eine Puppe des Linksflügels ist. Dessen Vertreter fahren die radikalste und unversöhnlichste Linksagenda in der neueren Geschichte der USA. Trotz seiner teilweise undemokratischen Untertöne wird der Linksflügel von Parteichefin Pelosi geduldet. Warum?

Weil man, wie auch in Europa, auch und gerade in Teilen der Demokratischen Partei zur Bekämpfung des Rechtspopulismus von Trump an einen neuen Linkspopulismus als Gegenrezept denkt im Sinne von Antonio Gramsci (1891-1937) - was jedoch ein Irrweg sein dürfte, dem der amerikanische Wähler kaum folgen wird, da dieser immer in die Mitte und nicht an die Ränder tendiert.1

Die US-Medien sowohl im rechten wie linken Spektrum tun im eigenen Interesse alles, diese polarisierte Stimmung weiter durch stündlich neue Polemiken und "breaking news" aufzuheizen und dadurch ihre Zuschauerzahlen zu vergrößern, obwohl sie damit zur Dekadenz von Demokratie zum Ideologiekampf zwischen nicht mehr miteinander kommunizierenden Lagern beitragen.

Der Gesamteffekt ist, dass, wie zuletzt der Streit um die Corona-Hilfen gezeigt hat, beide Lager sich die Nöte der US-Bevölkerung zunutze machen, um auf deren Rücken Wahlkampf zu betreiben. Dabei sind die US-Demokraten kaum weniger rücksichtslos im Kampf um die Macht als der Amtsinhaber.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.