Polizeigewalt gegen Proteste der Gelbwesten: "Reihenweise Verstümmelungen"

Archivbild aus dem Jahr 2007, noch mit der mittlerweile veralteten Flashball-Waffe. Foto: Nerban Del Burn / CC BY-SA 2.0 FR

Gummigeschosse zur Verteidigung gegen "Lynchmobs"? Die Regierung bestreitet Angriffe von Polizisten

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"Gummigeschosse" klingt relativ harmlos, ist es aber nicht; auch "Flashball" suggeriert der Öffentlichkeit, dass die Polizei zwar mit schmerzhaften Mitteln vorgeht, aber doch innerhalb von Grenzen, die Schlimmes verhindern. Manche assoziieren "Flashball" vielleicht sogar mit einem der martialischen Schieß-Spiele, wo mit Farbstoffpatronen aufeinander gezielt wird.

Dass der Einsatz der vermeintlich harmlosen Geschosse zu brutalen Verletzungen führen und lebensgefährliche Folgen haben kann, wurde vergangene Woche ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Libération, Le Monde, Le Point, France Inter, France Culture, Le Figaro, Nouvel Observateur, AFP und andere etablierte Medien haben das Thema "Polizeigewalt" aufgenommen.

Augen verloren, Hand verstümmelt, Zähne verloren

Es ist nicht nur der engagierte Journalist David Dufresne, der dem Innenministerium seit Wochen "Zwischenfälle" signalisiert - am Donnerstagabend war es Nummer 312. Oder die aktivistische Webseite "Désarmons-les" ("Lasst sie uns entwaffnen"), die seit dem 17. November 2018, dem ersten Akt der Gilets jaunes, bis zum 12. Januar 2019, 97 Verletzte auflistet, mit Fotos, die unmittelbar jeder Verharmlosung widersprechen. Einige haben ein Auge verloren, manche eine Hand, viele ihre Zähne.

Auch traditionelle Medien wie France Soir berichteten von der Gewalt und dass die Polizei unter Druck gerät. Anlass zum Alarm seien die "reihenweisen Verstümmelungen", die es in dieser Abfolge seit Jahrzehnten nicht mehr in Frankreich gegeben habe.

2.000 Demonstranten sollen nach Regierungsangaben seit Mitte November verletzt worden sein, 1.000 Verletzte werden aufseiten der Ordnungskräfte gezählt. Doch werden dazu keine genaueren Angaben gemacht. Bekannt ist, dass die Aufsichtsbehörde der Polizei, die "Polizei der Polizei" (IGPN - Inspection générale de la Police nationale) laut France Soir derzeit 200 Beschwerden über Polizeigewalt vorliegen hat.

LBD: Verteidigungskugeln

Im Mittelpunkt der momentanen Aufmerksamkeit stehen Waffen mit "dazwischenliegender Gewalt", um armes de force intermédiaire annähernd wortgetreu zu übersetzen. In den Nachrichten kommen sie oft als "nicht-tödliche" Waffen vor, die von der Polizei verwendet werden, um Gummigeschosse oder "Flashballs" auf Demonstranten abzuschießen. Tatsächlich wurden die Flashballs in den letzten Jahren von der französischen Polizei ersetzt durch "Verteidigungskugeln", so die wörtliche Übersetzung von Balles de Défense (BD). Die dazugehörige Waffe wird Lanceur de Balles de Défense genannt und ihre Abkürzung LBD steht für eine lange Reihe sehr unangenehmer Vorkommnisse. Sie ist berüchtigt.

Das Zentralorgan der bürgerlichen Konservativen, der Figaro, klärte an diesem Donnerstag über die LBD-40 auf, zeigte sie in einer großen Infografik unter der Feststellung, dass "mehrere Gilets jaunes von Schüssen der LBD-40 durch die Polizei und die Gendarmerie verletzt wurden". Man erfährt, dass die 40mm-Kugel mit einer Geschwindigkeit von 100 Meter in der Sekunde den Lauf verlässt, dass ein Laserpointer auf die Waffe gesetzt werden kann, der eine "sehr gute Treffsicherheit" auf 40 Meter erlaube, und dass die Reichweite in einem Bereich zwischen 25 und 50 Metern liege. Die Munition bestehe aus einer 40x46mm-Kugel aus Kautschuk, die auf eine "pyrotechnische Kartusche" montiert sei.

Der Unterschied zur Flashball-Waffe wird von der Zeitung Ouest-France anschaulich bebildert und auf der oben erwähnten Seite Désarmons-les erfährt man, dass die LBD-40 (aka GL06-NL) der Schweizer Firma Brüger & Thomet dem deutschen Konkurrenten HK69 von Heckler&Koch vorgezogen wurde, als die französische Regierung 2005 nach den großen Unruhen in den Vorstädten die Polizei mit nicht-tödlichen Waffen mit kurzer Reichweite aufrüsten wollte. Zuständig ist das Bureau des Armements et des Matériels Techniques (BAMT). Um die Dimension anzudeuten:

Ende 2008 hat das BAMT eine Ausschreibung für die Lieferung von 212.000 bis zu 1.204.500 Verteidigungskugeln (LBDR 40x46mm) lanciert. Sie sollten auf die Polizei, die Gendarmerie und die Gefängnisverwaltung aufgeteilt werden. Ende 2015 wurde eine neue Ausschreibung vom BAMT lanciert, für 115.000 neue balles de défense. Im Februar 2016 beschafften sich die Spezialeinheiten BAC (Brigade Anti-Criminalité, Einf. d.V.) und PSIG (Gendarmerie-Einheiten; Einf. d.V.) 134 neue Waffen für diese Munition. Die Waffe hat einen guten Käufer gefunden.

Désarmons-les

Allerdings, so warnt die Webseite der Aktivisten: "Ihre Eigentümlichkeiten machen sie zu einer gefährlichen Waffe, sprich: tödlich auf einer Entfernung unter 25 Meter."

Neuer Rekord

Laut der Nachrichtenagentur AFP haben Verletzungen durch die Gummikugeln BD und andere Polizeigewalt - es werden auch sogenannte Offensivgranaten eingesetzt (Nachtrag: welche die verstümmelten Hände erklären könnten) - zwischen November 2018 und Januar 2019, also im Zeitraum der Gelbwestenproteste, zu 48 Ersuchen an die Polizeiaufsichtsbehörde IPGN geführt. 2017 gab es nur acht solcher Anfragen und elf im Jahr zuvor, wo die nicht-letale Waffe wegen der Proteste gegen das Arbeitsgesetz bereits häufig eingesetzt wurde, nämlich 2.500 Mal laut der Polizeiaufsichtsbehörde. Das sei eine Steigerung um 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Wochen seit dem ersten Akt der Proteste dürften alle Rekorde brechen. Zwar ist noch nicht sicher, wie viele der oben erwähnten 200 Anzeigen polizeilicher Gewalt, die bei der Polizeiaufsichtsbehörde eingegangen sind, auf die LBD zurückzuführen sind, aber es gibt eine Schockmeldung, die in den vergangenen Tagen für Entsetzen sorgte, und es gibt Aussagen aus der Regierung, die ebenfalls schockieren.

Regelrecht hingestreckt

Ein Mitglied der Feuerwehr und Familienvater, also nicht gerade ein Schwarzer-Block-Typ, wurde am vergangenen Samstag in Bordeaux allen Anzeichen nach von der Polizei mit einem Schuss aus einer LBD regelrecht hingestreckt. Er lief vor der Polizei davon, die auf den Flüchtenden schoss und ihn am Kopf traf. Im Krankenhaus wurde er ins Koma versetzt. Seine Familie bangte um sein Leben.

Mehrere Videos zeigen den Vorfall aus unterschiedlichen Perspektiven und lassen kaum Zweifel an der erwähnten Darstellung. Gleichwohl: Die Angelegenheit wird untersucht. Es ist noch nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt, dass die Hirnblutungen des Mannes, die dazu führten, dass er im Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt werden musste, von einer "Verteidigungskugel" der Ordnungskräfte stammen. Auch wurde seitens der Polizei vorgebracht, dass man eine Gruppe von mutmaßlichen Casseurs ("Randalierer") verfolgt habe, die den Anschein machten, dass sie einen Apple-Store beschädigen wollten.

Die Videos lassen dies nicht erkennen, sie zeugen eher von einem leichtfertigen Umgang der Polizei mit der Gummi-Geschoss-Waffe, wie sich dies auch auf anderen Videos zeigt, die man z.B. beim genannten Journalisten David Dufresne findet.

Aber auch amtlich wurde zuletzt vor der Art und Weise gewarnt, wie die Polizeikräfte die Waffe einsetzen. In Frankreich gibt es den Posten des Verteidigers der Rechte, Défenseur des droits, der via Amt darauf achten soll, dass die Grundrechte der Bürger etwa gegenüber der Exekutive gewahrt bleiben. Bekleidet wird der Posten gegenwärtig von Jacques Toubon, welcher dem Parlament kürzlich die Empfehlung vorlegte, die LBD zurückzuziehen.