Steigt in Russland die Kriegsbegeisterung?

Russische Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, aber wohl nicht völlig konträr zur realen Stimmungslage. Symbolbild: Nasim Nadjafi auf Pixabay (Public Domain)

Die Ergebnisse russischer Umfragen zur Kriegszustimmung ist verzerrt – dennoch steigern aktuell mehrere Faktoren die Unterstützung des Ukraine-Feldzugs unter den Russen.

Aktuell berichten zahlreiche russische Zeitungen von einer neuen Umfrage, in der sich der Anteil der Kriegsgegner unter den Russen seit Beginn des Ukraine-Feldzugs mehr als halbiert haben soll – von 22 Prozent auf neun Prozent, während die offenen Unterstützer immer mehr würden, nämlich 64 Prozent statt 59 Prozent. Der Rest schwankte oder antwortete nicht.

Zweifel an russischer Meinungsforschung zum Krieg bleiben

Zunächst muss noch einmal festgestellt werden, dass diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind. Zum einen gibt es gerade in autoritären Staaten mit aktiver Zensur – und die war in Russland noch nie so hart wie seit Kriegsausbruch – die starke Tendenz unter Nichteinverstandenen, bei Umfragen aus Angst ihre wahre Meinung nicht kundzutun. Das gilt in Russland umso mehr, da mehrere große Umfrageinstitute den Ruf haben, der Regierung nahezustehen, beziehungsweise gleich staatlich sind und verdächtigt werden, Daten über Kriegsgegner an Repressionsorgane weiterzugeben.

Der russische Soziologe Maxim Aljukow spricht gar von der russischen Meinungsforschung als "politischer Waffe". Zweifelhafte Institute mit Regierungsnähe formulierten Fragen so, dass eine möglichst große Zustimmung erzielt werde, sagt er. Dennoch stellt beispielsweise auch das unabhängige Lewada-Zentrum eine anhaltend hohe Kriegszustimmung fest. Alexej Lewinson, Leiter der soziokulturellen Forschungsabteilung bei Lewada, hält generellen Zweiflern an Umfrageergebnissen in Russland entgegen, dass sich das Massenbewusstsein in seinem Land seit Kriegsbeginn in einem "Sonderzustand" befände.

Zensur wirkt auch meinungsbildend

Tatsächlich gibt es mehrere Faktoren, die in den Monaten seit Beginn des Krieges steigernd auf die Unterstützung der russischen Bevölkerung wirken. Zum einen die starke Militärzensur, durch die abweichende Meinungen kaum noch nach Russland hineinwirken. Oppositionelle Medien wurden reihenweise geschlossen, für die verbleibenden gilt: Alles, was von der Regierungsdarstellung abweicht ist Fake-News und unter Strafe gestellt. Abgesehen von einigen Husarenstücken einzelner Journalisten berichten alle noch in Russland ansässigen Medien stromlinienförmig regierungskonform.

Dass dies Einfluss auf die Meinung der Bevölkerung hat, zeigt die Tatsache, dass schon immer die älteren Russen, die sich vor allem aus dem seit Jahrzehnten regierungskonformen Fernsehangebot informieren, bei allen möglichen Themen auf Regierungslinie sind, während die jüngeren, die mehr kritische Online-Kanäle nutzten, auch mehr abweichende Meinungen vertraten.

Immer mehr dieser kritischen Online-Kanäle sind in Russland mittlerweile von den Aufsichtsbehörden gesperrt oder offline. Gerade politisch weniger Interessierte machen sich kaum die Mühe, technische Tricks wie VPN einzusetzen, um sich Zweit- und Drittmeinungen aus den wenigen verbliebenen, ins Ausland emigrierten Oppositionsmedien zu holen.

Prominente schwenken um oder emigrieren

Als der Krieg begann, stellte sich eine ganze Reihe von Musikern, Künstlern, Wissenschaftlern, Professoren und anderen Multiplikatoren gegen den blutigen Kreml-Feldzug. Ihnen folgten in großer Anzahl ihre Fans und ihr Umfeld – seien es Fans, Freunde oder Studierende.

Als der russische Staat in den Wochen nach Kriegsbeginn die Daumenschrauben anzog, bröckelte jedoch diese Front der offenen Kriegsgegner. Kritische Stimmen verstummten aus Angst vor Verhaftung, den Spitzen von bekannten Bildungs- und Forschungseinrichtungen wurden von oben Bekenntnisse zum Krieg abgerungen.

Die bekannteren Kriegsgegner sahen sich vor die Wahl gestellt: Prinzipientreu bleiben und das Land verlassen bzw. Job und Einkommen verlieren oder die Prinzipien aufgeben und sich anpassen. Nur durch oberflächliches Stillschweigen können Kriegsgegner in Russland etwa im öffentlichen Dienst ihren Job behalten.

Viele entschieden sich für diesen Weg oder gingen noch weiter. Etwa die bekannte TV-Moderatorin und Instagram-Influencerin Jana Rudkowskaja, die auch Produktionsleiterin des Eurovisions-Gewinners Dima Bilan ist. Am 24. Februar, dem Tag des Invasionsbeginns, zeigte sie sich schockiert angesichts zahlreicher Freunde und Verwandter in der Ukraine.

Bis Mai 2022 wandelten sich ihre öffentlichen Statements so, dass die russische Presse sie zum Kreis der Künstler zählt, die den Krieg offen unterstützen. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung eines solchen Wandels auf ihre 6,1 Millionen Follower.

Zur wandelbaren Jana Rudkowskaja gibt es aber durchaus standhafte Gegenbeispiele. Etwa die russische Singer- und Songwriterlegende Zemfira oder das avantgardistische Popduo Ic3peak, die in den letzten Wochen kriegskritische Songs veröffentlicht haben. Doch all diese Künstler mussten im Zuge dieser Veröffentlichungen wegen der repressiven Regierungspolitik das Land verlassen, um einer Verhaftung zu entgehen.

Es ist damit zu rechnen, dass Zemfiras Airplay in den linientreuen russischen Radiostationen massiv zurückgeht – Bands wie Ic3peak waren bereits vor dem Krieg nur in regierungskritischen, liberal gesinnten Kreisen populär. Aus dem Exil wirken solche Künstler auf das russische Publikum aktuell durch allerhand Websperren und ähnliche Mechanismen kaum noch, ihre Kraft als gewichtige Stimmen gegen den Krieg schwindet durch den Verlust des Kontakts zu ihren bisherigen Fans im Land nach und nach.

Kriegserfolge produzieren Kriegszustimmung

Ein weiterer Faktor, der die Unterstützung der russischen Bevölkerung für den Krieg steigert, ist der in den letzten Wochen günstige Verlauf für den russischen Invasoren. Die Eroberungen von Mariupol und Sewerodonezk beendeten eine lange Hängepartie voller Fehlentscheidungen und gescheiterter Offensiven, die zu Beginn einen schnellen Sieg verhinderte.

Der Krieg wandelte sich in der Folge in eine Materialschlacht "Panzer gegen Panzer", "Geschütz gegen Geschütz" wie es der israelische Militärhistoriker Martin von Crefeld gegenüber der Welt ausdrückt. Angesichts der Materialunterlegenheit der Ukrainer – 1:10 bei der Artillerie – könne ein solcher Verlauf nach seiner Meinung eigentlich nur eine ukrainische Niederlage zur Folge haben.

Der Westen könne auf langen Wegen nicht ausreichend Nachschub zur Verfügung stellen, um hier einen Ausgleich zu schaffen. Noch eindeutiger fallen solche Prognosen natürlich im russischen Propaganda-TV aus, mit denen die russische Bevölkerung aktuell dauerbeschallt werden.

Wer hier über die Russen die Nase rümpfen will, weil die Moral in einem offensichtlich "ungerechten" Krieg Russlands steigt, wenn die Invasionsarmee erfolgreich ist, sollte historische Parallelen nicht aus den Augen verlieren. So sank selbst während des Naziregimes die Kriegsmoral der Deutschen nicht etwa mit dem Beginn des Holocaust oder der deutschen Zerstörung seiner Nachbarländer.

Nein, erst mit dem sichtbaren Wechsel des Kriegsglücks 1944, mit einer massiven Verschlechterung der Versorgungslage und Zerstörung deutscher Städte kam es in breiteren Bevölkerungsgruppen und der Wehrmacht zu sichtbaren Unzufriedenheiten.

Stimmungswandel nur bei (bisher ausbleibendem) Wirtschaftskollaps

Diese historische Parallele deutet darauf hin, wie es in Russland überhaupt zu einem Stimmungswandel gegen den Krieg kommen kann. Bei einem günstigen Kriegsverlauf ist das nur möglich, wenn die Russen durch die Politik ihrer Regierung einen wirklich massiven Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Hierbei ist einzurechnen, dass die russische Bevölkerung sowohl als leidensfähig gilt als auch die Älteren von einer prowestlichen Regierung in den 1990er-Jahren Zeiten eines wirtschaftlichen Elends kennen.

So verbindet man mit einer Wendung hin zum Westen keinen Wohlstandsgewinn. Trotz massiver westlicher Sanktionen sind die Auswirkungen auf das Leben der normalen Russen bisher "ertragbar" – die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta beziffert den Rückgang der russischen Realeinkommen durch den Krieg auf zehn Prozent.

Die Angst der Russen vor den Sanktionsauswirkungen nimmt eher ab. Die Kriegskasse ist durch hohe Öl- und Gaspreise trotz Rückgang der Exportmenge gut gefüllt und lässt noch Aktionen zu, um eine in Russland drohende deflationäre Talfahrt der Wirtschaft sozial abzumildern. Die Front, an der der Kampf um die Köpfe und Herzen der Russen gewonnen oder verloren wird, befindet sich nicht nur in der Ukraine.