Türkei: Merkels zivilisatorischer Tabubruch

Auf der Flucht vor anrückenden islamistischen Milizen im Dienste der Türkei. Bild: Kurdischer Roter Halbmond

Die Bundesregierung scheint bereit, das türkische Regime und die ethnischen "Säuberungen" im nordsyrischen Rojava zu finanzieren. Ein Kommentar

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Wie lange hält eine Merkelsche Schamfrist im Fall eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges samt ethnischer Vertreibung? Seit dem 24. Januar 2020 kann diese Frage klar beantwortet werden: rund drei Monate. Am 9. Oktober 2019 griff das islamofaschistische Erdogan-Regime die kurdische Selbstverwaltung in der nordsyrischen Region Rojava an. Türkische Soldateska, Rechtsextremisten der "Grauen Wölfe" und Islamistische Milizen, teilweise direkt aus dem Islamischen Staat hervorgehend, morden, terrorisieren und vertreiben die kurdische und nicht-islamische Bevölkerung; sie plündern die Region und sind dabei, dort ein riesiges Ghetto für deportierte Flüchtlinge des syrischen Bürgerkrieges zu errichten.

Die Politik Ankaras trägt faschistische Züge: Eine Bevölkerungsgruppe, die Kurden Syriens, wird vertrieben, um einen islamistischen Bevölkerungsgürtel in den völkerrechtswidrig besetzten Regionen Nordsyriens zu errichten. Es ist ein Vertreibungskrieg gegen die Kurden Nordsyriens, den die Türkei führt - und der an die totalitäre "Bevölkerungspolitik" in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts erinnert. Eine Bevölkerungsgruppe soll schlicht in ihrer Identität ausgelöscht werden, um die Region mit türkeihörigen Gotteskriegern zu bevölkern. Zugleich forciert Ankara die Deportation von Flüchtlingen in dieses gigantische, von Islamisten bewachte Freiluftghetto, das auf den Trümmern Rojavas errichtet werden soll. Bis zu zwei Millionen Menschen will Erdogan in dieser Exklusionszone konzentrieren.

Das türkische Regime war der wichtigste Förderer, Profiteur und Verbündete des Islamischen Staates, der - gegen den zähen Widerstand Ankaras - unter furchtbaren Verlusten an Menschenleben hauptsächlich von eben der Selbstverwaltung Rojavas niedergerungen wurde. Kurz darauf wurde sie dem Erdogan-Regime durch Putin und Trump zum Fraß vorgeworfen.

Die Selbstverständlichkeit und Offenheit, mit der westliche Regierungen im geopolitischen Wettstreit mit Russland eben jene progressiven Kräfte zum Abschuss freigaben, die maßgeblich zur strategischen Schwächung des Islamischen Staates beitrugen, zeugt nicht nur von der zunehmenden Barbarisierung der internationalen Beziehungen, sondern auch von der totalen Missachtung der eigenen Opfer islamistischen Terrors in Europa oder den USA. Es ist ein später Sieg des extremistischen Islamismus, auch des sich neu formierenden Islamischen Staates, der inzwischen als eine Art inoffizieller Vorfeldorganisation des türkischen Imperialismus zu agieren scheint.

Schon der Tod des IS-Führers Baghdadi, der sich in der türkisch-syrischen Grenzregion aufhielt, machte offenbar, wie eng die Beziehungen zwischen der Terrorgruppe und den Regierungsislamisten in Ankara sind. Die neue Führungsriege der Steinzeitislamisten um den Turkmenen Amir Mohammed Abdul Rahman al-Mawli al-Salbi verfügt über beste Beziehungen zur Türkei, wie Spiegel-Online unter Bezugnahme auf Recherchen des Guardian meldete:

Aber die Identität des neuen Anführers lässt Rückschlüsse zu auf die momentane Orientierung des IS. Mit Salbi übernimmt einer der letzten Iraker das Kommando, zumal aus einer Gegend, aus der mehrere der ehemaligen Spitzenkader kommen. Und der pikanterweise familiär verbunden ist mit jenem Staat, der dem Treiben des IS jahrelang untätig zugeschaut hat: Salbis Bruder Adelb Salbi soll sich, so der "Guardian", in der Türkei aufhalten als Repräsentant der "Irakischen Turkmenenfront", einer jener Brückenköpfe, die Ankara nach 2003 im Nordirak finanzierte und kontrollierte, um seinen Einfluss dort zu sichern.

Der Spiegel

Solange Bilder kurdischer Kinder um die Welt gingen, die von türkischen Massenvernichtungswaffen verstümmelt worden sind, hielt man sich in Berlin mit der öffentlichen Unterstützung für Erdogan zurück - Berlin ging damals zur verdeckten Schützenhilfe für Erdogans Eroberungskrieg über, indem schärfere Maßnahmen der EU gegen die Türkei verhindert wurden. Diese verdeckte Unterstützung scheint man in Berlin inzwischen für überflüssig zu halten.

Nun weilte Frau Merkel beim türkischen Machthaber und Förderer des Islamischen Staates, um sich mit ihm vor allem in Sachen "Flüchtlingspolitik" abzustimmen. Die sechs Milliarden Euro, die Berlin via Brüssel dem ökonomisch hart bedrängtem Regime als Flüchtlingshilfe zusagte, sind wohl erst der Anfang. Letztendlich sind dies europäische Reparationszahlungen für einen verlorenen Krieg Erdogans. Erdogan beklagte sich, dass die Gelder nur NGOs zukämen, er dringt offenbar auf Direktzahlungen.

Die Türkei hat es trotz jahrelanger massiver Unterstützung dschihadistischer Kräfte nicht vermocht, den anvisierten islamistischen "Regime Change" in Syrien durchzusetzen. Ankaras Traum vom syrischen Vasallen- und Gottesstaat ist geplatzt. Erdogan will nun schlicht für das Scheitern seiner imperialistischen Eskalationsstrategie im syrischen Bürgerkrieg von der EU mit Milliardenbeträgen kompensiert werden, indem er die Flüchtlinge, die er selbst in seinem ottomanischen Größenwahn produzierte, als geopolitische Waffe einsetzt.

Und Berlins Politik wie Leitmedien spielen dieses perverse Spielchen, dem eine orwellisch anmutende, selbst induzierte Amnesie zugrunde liegt, eifrig mit. Es scheint, als sei nichts vorgefallen, die Beteiligten wollen zum geopolitischen business as usual übergehen - und sie hoffen auf das kurze Gedächtnis einer durch Massenmedien und soziale Netzwerke zur Geschichtslosigkeit konditionierten Öffentlichkeit. Reichten drei Monate, um alles vergessen zu machen? Es scheint, als ob ethnische Säuberungen, Kriegsverbrechen, Massenmord und Terror bereits zur neuen Normalität deutsch-türkischer Geopolitik geronnen sind, die von den Massenmedien der Bundesrepublik kaum noch thematisiert werden.

Das Völkerrecht weicht sukzessive dem Recht des Stärkeren

Diesem intendierten Vergessen gilt es entgegenzuarbeiten. Gerade weil es kein business as usual gibt, weil der Zug der Zeit in eine barbarische Zukunft strebt, deren sich bereits abzeichnende Umrisse oberflächlich an die finstere imperiale Vergangenheit des Kapitalismus erinnern, die vor wenigen Jahrzehnten noch als überwunden galt.

Der türkische Angriffskrieg gegen Rojava ist der vorläufige Endpunkt einer neoimperialistischen, mit dem Ende der Blockkonfrontation einsetzenden Verwilderung der Geopolitik, die mit dem NATO-Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 begann. Das Völkerrecht, das im Zeitalter der Systemkonfrontation zumindest formell weitgehend eingehalten wurde, weicht sukzessive der bloßen Machtpolitik, dem Recht des Stärkeren. Landraub, mit militärischer Gewalt durchgesetzte Grenzverschiebungen sind wieder akzeptiertes Mittel der Politik in einem Spätkapitalismus, in dem der Staatszerfall in der Peripherie immer öfter zu Interventionen und imperialen Abenteuern verleitet.

Merkels Staatsvisite bei dem türkischen Staatsislamisten machte vor allem eins klar: Die Bundesrepublik agiert in diesem Zusammenhang gegenüber der Türkei als ein politischer Unterstützer und Finanzier dieser neoimperialistischen Politik blanken Landraubes, der mit einer als faschistisch zu bezeichnenden Politik ethnischer "Säuberung", politischem Terror und Islamisierung einhergeht. Der Skandal von Ankara besteht darin, dass Merkel dem türkischen Sultan im Präsidentenamt in Aussicht stellte, weitere "Hilfen" zur Verfügung zu stellen. Und diese Hilfen könnten eben auch in die türkische Besatzungszone in Nordsyrien fließen (siehe dazu auch die Pressemitteilung von medico). Und es ist keine alternativlose Zwangslage, in der sich Merkel befindet: Wozu Berlin gegenüber ökonomisch angeschlagenen Ländern fähig ist, machten Merkel und Schäuble 2015 gegenüber Griechenland klar.

Es ist inzwischen unzutreffend, vom Appeasement gegenüber Erdogan zu sprechen. Berlin entschied sich zur offenen Kollaboration mit dem türkischen Regime.

Auf Nachfrage von Journalisten erklärte Merkel, die Bundesregierung ziehe es in Erwägung, türkische Maßnahmen in den besetzten Gebieten Rojavas über den Umweg des UNHCR zu finanzieren. Damit scheint Berlin bereit, Angriffskriege, ethnische Vertreibungen, den Ethnozid an den Kurden Rojavas zu unterstützen, der im Aufbau eines gigantischen Flüchtlingsghettos münden soll. Merkel exekutiert somit genau die Politik der Neuen Rechten in Europa, die auf eine Allianz mit den wesensverwandten Islamisten in Ankara setzt. Ungarns rechtspopulistischer Staatschef Orban forderte schon bei Kriegsausbruch eben jene Unterstützung für den Ethnozid der Türkei in Rojava, die Merkel dem Terror-Regime in Ankara zu gewähren bereit scheint.

Ungarn wurde für seine offene Unterstützung des türkischen Angriffskrieges übrigens von Erdogan und Putin mit dem Anschluss an die Turkstream-Pipeline belohnt. Angela Merkel setzt Orbans dystopische Vision eines von Islamisten bewachten gigantischen Flüchtlingsgefängnisses in Nordsyrien nun in politische Realität um.

Sollten diese Planungen tatsächlich realisiert werden, wird die anvisierte türkische Deportationszone in Nordsyrien, in der die ökonomisch überflüssigen Flüchtlinge der Region konzentriert werden sollen, mit Stolz das Siegel "Made in Germany" tragen können. Ein feuchter Traum europäischer Halb- und Vollnazis scheint hier verwirklicht zu werden. Es ist ein Zivilisationsbruch, der in Reaktion auf die eskalierende soziale und ökologische Krise plötzlich Vertreibungen, Terror, Deportationen und die Errichtung KZ-artiger Exklusionszonen zur neuen Normalität deutscher Geopolitik machen lässt. Und Leitmedien machen dieses durchsichtige, verlogene Schmierentheater mit. Als ob es das Normalste von der Welt wäre, die Finanzierung von völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, von "ethnischen Säuberungen" und Terrorkampagnen in Erwägung zu ziehen. Zugleich agieren die deutsche Justiz und Polizei als verlängerter Arm Erdogans, indem die Kräfte, die gegen den islamischen Terror in Syrien und den Irak kämpfen, als "Terroristen" verfolgt werden.

Trump und Putin ließen Erdognas islamistische Killerbanden in Afrin und Rojava aus einem geopolitischen Kalkül gewähren, um diesen in der westlichen Einflusssphäre zu halten oder um Pipelines zu realisieren. Merkel unterstützt Erdogan nicht nur politisch, sie erwägt, diese faschistische Politik ethnischer Säuberungen auch noch zu finanzieren. Das barbarische Agieren Washingtons und Moskaus, die de facto von Erdogan gegeneinander ausgespielt wurden, wird von Berlin somit mühelos überboten. In Sachen Barbarei lässt sich Berlin von Niemanden was vormachen, man hat ja einen historisch erworbenen Ruf zu verlieren. Terror, Vertreibung und Mord müssen sich auch weiter lohnen - dies scheint die Devise Merkelscher Türkeipolitik zu sein, die somit an die mörderischen Traditionslinien deutscher Geopolitik in der Region anknüpft.

Das Deutsche Reich leistete Beihilfe zum türkischen Völkermord an den Armeniern, die Nazis lieferten das Giftgas, mit dem der ethnozentrische türkische "Genozidstaat" - der periodisch seine Souveränität durch Massaker an Minderheiten festigen muss - in den 1930er Jahren massenhaft Aleviten umbrachte. Nun scheint Merkel bereit, das Geld zu liefern, mit dem auf den Trümmern Rojavas ein türkisches KZ- und Ghettosystem für Flüchtlinge errichtet werden soll. Einen Aufschrei der Empörung über diesen Zivilisationsbruch braucht Merkel in der veröffentlichten Meinung der rapide verrohenden Bundesrepublik sicherlich nicht zu befürchten.