"Lyrik des Internet"

Auf dem Festival "Steinerei 2006" wurden die besten deutschsprachigen Brickfilme prämiert

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Brickfilms – das englische Wort für Steine, aber auch eine Anspielung auf Trickfilme - sind in Stop-Motion-Technik animierte Filme mit Lego-Figuren, die in überwiegend aus Lego erbauten Kulissen agieren (vgl. zu einem Überblick zur Brickfilmszene und ihrem filmischen Schaffen Brickfilms: Lego in Bewegung). Die in der ganzen Welt verteilte Szene der meist jugendlichen Brickfilmer trifft sich gewöhnlich virtuell im Internet auf Seiten wie Brickfilms.com, wo aktuell ca. 1.000 Brickfilme zum Download liegen (ihre Zahl wächst ständig) oder im deutschsprachigen Raum auf Brickboard.de.

“Der Fischer und der Fisch“. Bild: Die Steinerei

Treffen im realen Leben sind hingegen nicht zuletzt aufgrund des jungen Alters der Filmemacher und ihrer geographischen Verstreutheit eher ungewöhnlich. Abgesehen von Screenings auf dem jährlich in verschiedenen amerikanischen Städten stattfindenden Legofanfest BrickFest, ist die auf den deutschen Sprachraum ausgerichtete Die Steinerei so das weltweit einzige nationale Festival für Brickfilme, bei dem sich die im Brickboard.de angemeldeten Brickfilmer treffen, um ihre mit Lego- oder ähnlichem klickbaren Stein-Material gedrehten Filme mal auf der großen Leinwand zu sehen. Am 13. Mai fand im Kino im Künstlerhaus in Hannover das Festival zum zweiten Mal statt. Trotz sonnigen Frühlingswetters ließen sich ganze Familien, Brickfilmproduzenten und Interessierte von weit her nachmittags in das bis auf den letzten Platz besetzte Kino in Hannover locken, um bei der Premiere der dreizehn nominierten Filme und der Verleihung der „Ziegelsteine“ live mit dabei zu sein.

Rotkäppchen, vom rechten Weg abgekommen

Ins Leben gerufen wurde die „Steinerei“ vom Medienwissenschaftler und Publizisten Mathias Mertens, der 2004 damit begonnen hat, aus Spaß Brickfilme zu machen. Was den 34-Jährigen erstaunte, war, dass die Fragen, die ihm im Verlauf seiner eigenen Filmproduktionen aufkamen, in den Foren von Brickboard.de meist von 13- bis 15-Jährigen kompetent beantwortet wurden. Begeistert von der Bereitschaft der Szenemitglieder, sich einander unabhängig von Alter oder Hierarchien gegenseitig zu helfen und zu unterstützen, wollte Mertens der Szene etwas zurückgeben. Wohl wissend, dass Wettbewerbe sowohl die Gemeinschaft stärken als auch die Qualität fördern, veranstaltete Mertens 2005 in Gießen die erste Ausgabe der „Steinerei“, um dem, was er in einem Essay selbst als „Lyrik des Internet“ bezeichnet, eine Plattform zu geben.

Mathias Mertens, Veranstalter und Moderator der „Steinerei“. Foto: K. Wehn

„The enemy of art is the absence of limitations“, lautet ein Credo von Altmeister Orson Welles, dessen Relevanz deutlich wird, wenn man sich mit Lego-Filmen beschäftigt. An Limitierungen fehlt es Brickfilmen (gottlob) nicht: Sperrig, eckig und kantig ist das steinige Grundmaterial; auch den Figuren sind nur wenige Bewegungsabläufe möglich. Dennoch - oder vielleicht auch gerade deswegen - lassen sich viele inspirieren, gerade mit diesem Material ihre ersten Erfahrungen im Animationsfilm zu machen und dann über Jahre als aktive Mitglieder in dieser Szene zu bleiben.

Dem diesjährigen Wettbewerb war ein Thema vorgegeben, das es den Filmemachern ermöglichte, einerseits auf Vorhandenem aufzubauen und das trotzdem jede Menge Raum zur individuellen Entfaltung bot: Literaturverfilmungen. So reichte die Bandbreite der nominierten Filme auch von unkonventionellen Umsetzungen der Märchen Der Fischer und seine Frau, Rotkäppchen und Hänsel und Gretel, literarischen Klassikern wie Shakespeares Kaufmann von Venedig, Daniel Defoes Klassiker „Robinson Crusoe“, dem 3. Streich von Wilhelm Buschs „Max and Moritz“, Interpretationen von Goethe-Gedichten wie Glück und Traum oder Gefunden bis hin zu einem Film, der geschickt die vom Veranstalter gesetzten Vorgaben unterlief. Der actiongeladene und monumentale The Secret basierte nämlich auf Literatur, die wie Joanne K. Rowlings letzter Teil von Harry Potter noch nicht veröffentlicht wurde.

Das Set der Produktion "The Secret". Bild: Die Steinerei

Das Spektrum der eingereichten Filme reichte von bewusst handgemacht und charmant fehlerbehaftet bis hin zu extrem aufwändig. Am einfachen Ende waren Filme mit ruckeligen Animationen und kruden Bewegungsabläufen, die Fehler einsetzten, um bestimmte Effekte zu erreichen. So wurde die Desorientierung, die Hänsel und Gretel empfinden, wenn sie durch den Wald irren, durch verschobene Hintergründe in Szene gesetzt. Fast schon als monumental zu bezeichnen waren Filme wie Das Gespenst von Canterbury nach Oscar Wilde, der Wettbewerbsbeitrag von Cornelius Koch und Theodor Becker, den beiden Steinerei-Gewinnern des Vorjahres mit gruseligem Spannungsbogen, oder „The Secret“ von Mario Baumgartner, dessen urbanes Flammeninferno und kreisende Hubschrauber in einem apokalyptischen Szenario Reminiszenzen an US-amerikanische Katastrophen-Filme aufkommen ließen.

Auf der diesjährigen Steinerei waren es so auch vor allem kleine Gags und liebevolle Details, die den Charme der Filme ausmachten und die für viele Lacher im Publikum sorgten, wie etwa eine aus wenigen flachen roten Legosteinen bestehende Blutlache, die von einer Lego-Mama sorgfältig weggeputzt wurde, ein Mond aus Lego (beides in „Das Gespenst von Canterbury“) oder eine aus nur wenigen Teilen zusammengesetzte Entenmutter, die in Gefunden ihre Kükenschar zusammen hält.

Die Entenfamilie aus „Gefunden“. Bild: Die Steinerei

Zwei Preise waren zu vergeben: Ein Publikumspreis, bei dem jeder Zuschauer im Saal seine Stimme abgeben konnte, sowie ein Jury-Preis. Am Ende geschah das, was sonst selten geschieht: Sowohl das Publikum als auch die Jury entschieden sich getrennt, aber übereinstimmend für den Film Der Fischer und seine Frau, erst der zweite Film von Mirko Horstmann. Der Bremer Informatiker konnte so - sichtlich berührt und erstaunt, nichtsdestoweniger wohlverdient - gleich beide Placebos für die „Ziegelsteine“, die offiziellen Trophäen der Steinerei, in Empfang nehmen.

Der doppelte Gewinner Mirko Horstmann. Foto: K. Wehn

Die Hand des Zeichners im Animationsfilm ist ein populäres Motiv, das im unabhängigen Animationsfilms schon so oft und auch auf so vielfältige Weise aufgegriffen wurde, dass es auf Festivals schon ganze Retrospektiven füllte. Wie bei allen Brickfilmen ließ man sich auch in Mirko Horstmanns Film schnell darauf ein, die Mikroperspektive der Lego-Figuren als „normal“ zu betrachten. Dies wurde hier allerdings nach nur wenigen Minuten gebrochen, als die Schöpferhand mehrfach in das animierte Geschehen eingriff und dem staunenden Zuschauer der Perspektiv- und Proportionswechsel zwischen animierter Legowelt und realer Welt in aller Radikalität deutlich machte, so dass sich der Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes wie in Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ fühlte.

Das Set für „Der Fischer und der Fisch“. Bild: Die Steinerei

Positiv fiel auf, dass Frauen ihren festen Platz in der lange Zeit männlich dominierten Brickfilmszene beanspruchen. Mit „Glück und Traum“, „Sindbad und der Elfenbeinhändler“, „Max und Moritz“ stammten gleich drei Filme von ausschließlich weiblichen Produktionsteams.

Die Zuschauertribüne in „Helden 06. Bild: Müller/Plag/Seibert/Steidl

In der Pause, in der die Jury ihre Entscheidung fällte, lief der gerade am 11.05.06 frisch auf DVD erschienene Brickfilm Helden 06, das Nachfolgeprojekt von Florian Plag, Martin Seibert und Ingo Dominik Steidl, die 2002 mit ihrem 10-minütigen Lego-Dokumentarfilm über das Endspiel der Fußball-WM in Bern Deutschland gegen Ungarn 1954 zum Originalkommentar von Herbert Zimmermann Kultstatus im Internet erreichten. Dies führte dazu, dass der Film sich rasant verbreitete, auf Festivals ausgezeichnet wurde und im Nachhinein Fördermittel für 50 Kinokopien erhielt und auf DVD erhältlich ist. Pünktlich zur anstehenden Fußball-WM haben die drei Offenburger Medienstudenten einen neuen Brickfilm über ein fiktives Endspiel der WM 2006 gemacht, in dem die deutsche Nationalmannschaft natürlich wieder mit als Protagonist dabei ist. Die (Erfolgs-)Geschichte beider Filme illustriert sehr anschaulich, wie man sich mit einem ansprechenden Projekt im Internet eine Fangemeinde aufbauen kann, um dann wieder in die klassischen Medien Film- und Fernsehen zurückzuwandern.

Das Fußballfeld in „Helden 06“. Bild: Müller/Plag/Seibert/Steidl

Das Internet ist berühmt-berüchtigt für viele kurzzeitige Hypes, die genauso schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden sind – die Brickfilme scheinen jedoch nicht zu solchen Phänomenen zu gehören. Indem sie sich gegenseitig zu neuen Höhen antreiben, indem sie im fließenden Wechsel mal die Rollen von Produzenten, Kritikern und Lehrern einnehmen, all das könnte Mathias Mertens Vision für die Zukunft Realität werden lassen, dass einige der heutigen Brickfilmproduzenten die nächste Generation von Musikvideoregisseuren der Güteklasse von David Fincher, Spike Jonze oder Michel Gondry sein könnten. Der konstruktive und freundschaftliche, mitunter fast liebevoll zu bezeichnende Umgang der Brickfilmemacher miteinander macht Mut, dass heutige Eltern sich keine Sorgen darum machen müssen, dass ihre vorm Computer sitzenden Kinder intellektuell und kommunikativ verarmen. Und wer das Glück hatte, die diesjährige Steinerei live zu erleben, hatte zwar die Nachmittagssonne verpasst, aber fuhr trotzdem mit viel Sonne im Herzen heim.