Als William Gibson den Cyberspace erfand ...

Die Faszination für ein Vielzweck-Symbol aus der Science Fiction-Literatur

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"Dataspace" wäre eine Alternative gewesen, die er aber verworfen hat. Der Science Fiction-Schriftsteller William Gibson war 1991 als Referent zu einem Workshop an der (West)Berliner Akademie der Künste1 eingeladen und schilderte, wie es zur Entstehung des Begriffs "Cyberspace" 2 kam, den er in seinen Romanen und Kurzgeschichten populär gemacht hat. Das Hauptmotiv dieser Wortschöpfung sei gewesen ein Modewort ("buzzword") zu schaffen, und das ist ihm wahrlich gelungen. Eine Google-Suche nach diesem Stichwort ergibt über fünfundzwanzig Millionen Resultate im September 2006. "Cyberspace" ist eines der populärsten Techno-Wörter überhaupt geworden, das vielfältig verwendet wird und mit dem ursprünglichen Kontext, für den Gibson es erfunden hat, nichts mehr zu tun hat.

Schwieriger ist, nach den Gründen zu fragen, warum der Cyberspace eine derart rasante Begriffskarriere hinter sich gelegt hat, und den Grad zu bestimmen, wie dieses Wort in kulturellen Zusammenhängen gewirkt hat. Es wäre zu wenig nur den schnellen Aufstieg eines Modewortes und seinen Fall durch inflationären Gebrauch zu betrachten.

Cyberspace als Marketing-Begriff

Cyberspace taucht interessanterweise zuerst als Markenbezeichnung 1982 in seiner Kurzgeschichte Chrom brennt auf:

" (...) in Bobbys Loft kam das einzige Licht von einem Monitor und den grünen und roten LEDs an der Vorderseite des Matrixsimulators. Ich kannte jeden Chip in Bobby Simulator in- und auswendig; er sah aus wie ein ganz alltäglicher Ono-Sendai VII, der 'Cyberspace Seven', ..."

Cyberspace als Wort hat einen guten Klang; es drückt alles Mögliche aus, was sich an Vorstellungen und Ahnungen um die neuen Technologien dreht. Gibson hätte nie gedacht, wie er bei dem Workshop sagte, dass dieser Terminus von der IT-Industrie so ernst genommen würde; für ihn war das Wort nur ein literarisches Mittel. Cyberspace wurde aber zu einem starken Marketing-Begriff, den alle wohl oder übel benutzen mussten und nachwievor müssen, um die Geldgeber zu erreichen. Gibsons Weggefährte Bruce Sterling deutet das an:

"The word 'cyberspace' is a sleek container for all kinds of suspicious techie marvels - notions with radically different premises - and considerable commercial promise. People - some of them, millionaire entrepreneurs - are in technophilic ecstasy, boldly comparing 'cyberspace' to the telephone, the automobile, the Wright flyer, the personal computer."

Der Ruhm, der Gibson für den Cyberspace zusteht, ist zu einem geringen Teil derselbe, den die anonymen Schöpfer von Begriffen wie "Kodak" oder "Sony" innehaben - die Eingängkeit des Wortes hat dafür gesorgt, dass eine Marketing-Logik in Gang gebracht wurde, die alles niederwälzt, was Gibson an Metaphorisierung oder Ironie mitausdrücken wollte. Wenn also Gibson so gern davon redet, dass die Bücher und die Wörter wie Kinder sind, die aus dem Haus gehen und ihren eigenen Weg machen, kann man in diesem Fall ergänzen, dass diese - um im Bild zu bleiben - durch Dritte billig verkauft worden oder in schlechte Gesellschaft geraten sind.

Die Medienbegeisterung für VR zu Beginn der neunziger Jahre

Vom Spiegel über Stadtmagazine bis zu Lifestyle-Zeitschriften - alle brachten zu Beginn des letzten Jahrzehnts vor der Jahrtausendwende Texte über die sagenhaften Möglichkeiten der "virtuellen Welten". Es war der "Einstieg" in eine künstliche (Medien)Realität, der offensichtlich eine Faszination für viele ausgeübt und zu einer wahren Flut an Veröffentlichungen geführt hat. Jüngere Leser, die mit Internet und Mobilkommunikation aufwachsen, werden diese Begeisterung, die der Cyberspace damals auslöste, gar nicht mehr nachvollziehen können. Journalisten nahmen Zuflucht zu lyrischen Schilderungen mit schon psychedelischem Einschlag, um ihren Lesern die Verheißungen des neuen Mediums nahe zu bringen:

"Die Musik legt Tempo zu, und die ganze Party zieht in den Bauch eines durchsichtigen Walfisches. Eine Zeitlang tanzt du auf der Fackel der Freiheitsstatue, dann auf dem Roten Platz und schließlich auf den Ringen des Saturn. Nach Mitternacht spielst du Planetenbillard, bläst Popcorn über den Himalaya und segelst gegen Morgen in einem rubinroten Pantoffel den Amazonas hinunter. Willkommen in der - sich noch etwas neblig abzeichnenden - Welt virtueller Realität: ein anschmiegsames Wunderland, das - so wird gemunkelt - Hollywood, die Wall Street und den privates Wohnzimmer auf den Kopf stellen wird."

Die Kraft des Mythos war aber größer als die Kraft seiner technischen Realisierung. Während allerorten über die Möglichkeiten dieser neuen Technologie debattiert wurde, standen kaum reale technische Systeme zur Verfügung und schon gar nicht für einen Massenmarkt. Insofern kann man sagen, dass die Kultur- und Medienindustrie Anfang der Neunziger sich ziemlich kopflos in den Cyberspace stürzte3. Die Beiträge waren meistens illustriert mit Fotos kostspieliger Technologien, die die kalifornische Firma VPL-Research im Angebot hatte. VPL, gegründet von Jaron Lanier (der wiederum den Begriff "Virtuelle Realität" geprägt hat) entwickelte die Techniken (weiter), die mit dem Cyberspace verbunden werden: Datenhandschuh, -helm, -anzug.

Anlass des bundesdeutschen Schubs von Berichten zu diesem Thema war die legendäre Ars Electronica von 1990. Es war so, als würde man der Gründungsversammlung einer alternativen politischen Gemeinschaft - "Virtualien" - beiwohnen. Viele, die in der Technokultur Rang und Namen hatten, waren vor Ort. Wichtige Wissenschaftler (Marvin Minsky), Ingenieure (Scott Fisher), Aktivisten (John Barlow), Künstler (Brenda Laurel), Theoretiker (Arthur Kroker) und "Propheten" (Timothy Leary) waren anwesend um über die Chancen der Virtuellen Realität zu reden, darunter auch die beiden Science Fiction-Autoren Bruce Sterling und William Gibson. Kurzfristig wurde noch Jaron Lanier eingeflogen und hielt in den Abendstunden einen Vortrag. Ich erinnere mich an die Pressekonferenz mit Gibson und Sterling, auf der beide wie Popstars behandelt wurden. Sterling führte das Wort und polemisierte heftig gegen von der Presse vorgebrachte Vergleiche. Wenn VR von einigen mit einer Droge verglichen würde, dann zeige das nur, dass die Betreffenden nur Drogen kennen. Eine Technik durchzusetzen, sei immer ein kultureller Kampf. Er können keine Voraussagen machen über die konkreten Formen, aber es sei unzweifelhaft, dass es eine technologische Entwicklung in diese Richtung gebe und etwas kommen werde, was der literarischen Fiktion des Cyberspace entspreche. Er sprach auch davon, dass solche Entwicklungen in Sackgassen führen könnten; viele technische Erfindungen seien heute vergessen (mit dieser Bemerkung nahm er sein späteres "Dead Media"-Projekt vorweg).

Warum also war gerade Gibsons Begriff damals so erfolgreich? Der Autor und Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller liefert einen weiteren Baustein für die Erklärung. Als Gibson den Cyberspace in den Achtzigern prägte, hatten sich die technischen Rahmenbedingungen verändert.

"Die Computertechnologie war genügend weit fortgeschritten, um die Vision virtueller Realitäten als ein effektiv erreichbares Ziel und ein sinnvolles technisches Leitbild erscheinen zu lassen, und das Konzept passte hervorragend in die Raster der Postmoderne-Diskussion um Medien, Simulation und das Verschwinden der Wirklichkeit. Aufmerksamkeit seitens der kulturellen und wissenschaftlichen Eliten war garantiert, und Virtuelle Realitäten fanden euphorische Fürsprecher in Mediengurus, Künstlern und Computerexperten."

Wir wissen, dass diese Träume schnell zerplatzten. Mitte der neunziger Jahre war der VR-Hype vorbei. Diverse technische Lösungen waren kein Erfolg und sind längst selbst "tote Medien" geworden. 1992 hatte Lanier bereits die Firma VPL verlassen. In der Zeitschrift Wired wurde nun diskutiert, ob VR mit neuen Potenzialen eines Tages wiederkehren würde. VR-Technologien haben sich bis jetzt in einem Edutainment-Markt nicht durchgesetzt. Bis heute führt VR einen Schattendasein als Spezialtechnik in Forschungslaboren und Designabteilungen, entwickelt sich aber technisch mit neuen Anwendungen weiter (beispielweise in der von Dan Sandin konzipierten CAVE-Technologie). Der Cyberspace wiederum wurde von der Presse als Begriff gleich auf das nächste Medium übertragen: das sich explosionsartig ausbreitende WorldWideWeb.

Der Einfluss eines Buches

William Gibson verwendete den Cyberspace als Handlungsraum 1984 in seinem berühmten Roman Neuromancer, er hat jedoch kein technisches Konzept entworfen, das von Multimedia-Unternehmern nur 1:1 umzusetzen werden brauchte4. Gibson ist kein Hard-SF-Autor, für ihn ist der Cyberspace eine Metapher gewesen für die Anfang der achtziger Jahre zu beobachtende Medienrealität. Insofern kann man sich darüber streiten, ob Gibson tatsächlich die Welt handgreiflich verändert hat - so bringen es wohlmeinende Kommentatoren wie der Autor Jack Womack auf den Punkt -, oder ob er für Veränderungen, die kulturell in der Luft lagen, nur das überzeugendste Symbol gefunden hat, das wiederum seinen Einfluss entfalten konnte - ich neige zu letzterem. Auch andere Autoren aus Literatur und Film, haben, wie zu zeigen sein wird, unbewusst oder bewusst Visionen für diesen neuen Kontinent der Menschheitsgeschichte gesucht, der seit den Siebzigern zu wachsen begann: die technisch erzeugte Virtualität über zusammengeschaltete Datennetze.

Jack Womack, mit Gibson befreundet, hat eine wortgewaltige Hymne auf den Einfluss von Neuromancer verfasst. Kein Attribut ist zu groß, um nicht der Charakterisierung dieser Leistung zu dienen. Gibson habe ...

"das Weltbewusstsein und seine Begrenzungen in einem Maß gesprengt, das man sich vielleicht hat ausdenken, doch niemals hat vorhersagen können - und das mit gedruckten Worten, mit den Mittel der Science Fiction ... In seltensten Fällen (...) erfasst etwas oder jemand haargenau und wundersamerweise die wahre Natur der Dinge. in 'Neuromancer' hat meiner Meinung nach Gibson als erster (...) erfasst, welche Gestalt die Dinge dereinst annehmen werden. ... Als 'Neuromancer' erschien, kauften und verschlangen es erst hunderte, dann tausende jener Männer und Frauen, die in ihren Garagen und stillen Kämmerchen dem zur nicht ganz einfachen Geburt verhalfen, was man auch heutzutage noch 'Neue Medien' nennt. Und diese paar Tausend (...) fingen an, nach Möglichkeiten zu suchen, um aus dem Gold der Vorstellungskraft bare Münze aus Silizium zu schlagen. ... Zumindest mir scheint es offensichtlich, dass unsere gegenwärtige Realität (...) eine ganz andere wäre, hätte sich Gibson nicht anno 83 hinter die Schreibmaschine geklemmt ... William Gibson ist etwas gelungen, wovon jeder Schriftsteller träumt, etwas, das nur den allerwenigsten vergönnt ist: Er hat die Welt verändert."

Wie schon gesagt, Gibson hat nicht die Medienlandschaft der Zukunft in klaren Konturen und technischen Anweisungen beschrieben ausgehend vom Jahre 1984, sondern er hat mehr die Stimmung erzeugt, dass es so sein könnte, dass etwas grundsätzliches Neues auftauchen würde: eine virtuelle (Parallel)Welt, die mittels Schnittstellen zugänglich ist. Es gibt keinen Gibsonianischen Cyberspace und wird ihn vermutlich in der von Gibson umrissenen Form auch nie geben.

Ende der achtziger Jahre führte Timothy Leary ein Gespräch mit Gibson für das Kultmagazin Mondo 2000, das bis Mitte der neunziger Jahre recht verbreitet war (es kombinierte Werte der amerikanischen Gegenkultur wie Bewusstseinserweiterung und Gesellschaftskritik mit den neuen Technologien und brachte Artikel zu Cyberpunk, Gehirnimplantaten oder Smart Drugs). Für dieses Magazin interviewt zu werden beweist den Popularitätsgrad, den Gibson in der Kultur des digitalen Undergrounds hatte. In diesem Interview beschreibt Gibson seinen Cyberspace:

"Cyberspace is a consensual hallucination (...). It's like, with this equipment, you can agree to share the same hallucinations. In effect, they're creating a world. It's not really a place, it's not really space. It's notional space."

Der Cyberspace verändert sich in den drei Büchern der "Neuromancer"-Trilogie, worauf ich noch zu sprechen komme. Möglicherweise wird es einen ähnlichen Raum geben, in dem mit entsprechenden Schnittstellen ausgestattete Menschen direkt Kontakt aufnehmen können zu einem Medium, das ihnen verschiedene Repräsentationen von Daten zur Verfügung stellt und in dem sie mit Formen der Künstlichen Intelligenz konfrontiert werden. Die Redaktion von Mondo 2000 kommentiert an der gleichen Stelle, an der das obige Gibson-Zitat 1992 veröffentlicht wurde:

"The dream of literally 'plugging in' to a computer via a jack that goes into the back of your head is still science fiction. The trend in the nineties is to try to get a 'plugged in' feeling simply by using very advanced sound and graphics displays. Thus Gibson's 'cyberspace' has permutated into today's 'virtual reality' and in today's computer graphics circles the two words are used interchangeably."

Auf die aus heutiger Sicht erstaunliche Medienbegeisterung zum Thema Virtuelle Realität alias Cyberspace zu Beginn der Neunziger bin ich schon eingegangen. Unabhängig von solchen feinen Unterschieden, wurde der Cyberspace zur Projektionsfläche sowohl für Musiker, Filmregisseure, andere Schriftsteller als auch für Unternehmer und Ingenieure.

Es ist nicht ganz einfach, diesen Einfluss genau zu bestimmen und seinen Wirkungsfeld zu umschreiben. Der Publizist Stewart Brand berichtet von seinem Besuch am M.I.T. Media Lab 1987, dass SF dort die Literatur schlechthin sei und jeder Informatikstudent Bücher wie John Brunners Der Schockwellenreiter, Vernor Vinges Wahre Namen5 oder William Gibsons Neuromancer kennen würde6. Ein Zitat des Ingenieurs Randal Walser deutet an, dass Gibsons Fantasien als Anregung gesehen wurden etwas Ähnliches ins Werk zu setzen:

"In William Gibsons Geschichten, beginnend beim 'Neuromancer', verwenden die Leute ein Instrument namens 'Deck', um in den Cyberspace zu 'jacken'. Das Instrument, das Gibson beschreibt, ist klein genug, in eine Schublade zu passen und stimuliert direkt das menschliche Nervensystem. Obwohl Gibsons Vision außerhalb der Reichweite der heutigen Technologie liegt, so ist es heute dennoch möglich, viele der Effekte zu erzielen, auf die Gibson anspielt."

Der Publizist Howard Rheingold beschreibt in seinem Buch Virtuelle Welten - einem Reportage-Klassiker aus den VR-Laboren - die wechselseitige Beeinflussung von SF und Technikentwicklung anhand eines Vorgangs, bei dem technische Konzepte um das visuelle Datenmanagement auf den "fruchtbaren Boden" der SF-Literatur gefallen seien, um dann in Gestalt des Cyberspace in die VR-Forschung zurückzukehren7. Der Programmierer Tim McFadden wollte den "Gibson" einführen als Maßeinheit im Cyberspace - ei

ne besondere Reminiszenz an den Autor. Ähnlich emphatisch wie Womack sich zu Gibson äußert, formuliert der VRML-Miterfinder Mark Pesce seine Begeisterung über die Novelle Wahre Namen von Vinge (und gibt damit einen Hinweis auf weitere Quellen des Virtualitätsgedankens innerhalb der Science Fiction).

"Did Vinge create virtual reality? Perhaps not, but something about his novella caused people to revision their work, and refocus themselves toward the ends he described. In an interesting inversion, life imitates art, and people dedicated their professional careers to realize Vinge's vision. I was one of them."

Die Literatur ist also ein Katalysator für neue Ideen; sie kann bei einzelnen Forschern die Neujustierung von Forschungsplänen auslösen und einen "Visionsraum" bieten, in denen diese ihre konkreteren Ziele ansteuern. Die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Allucquere Rosanne Stone wiederum weist auf die soziale Funktion solcher Konzepte hin. Sie bezeichnet die Publikation von Neuromancer als das bedeutsamste Ereignis in einer bestimmten Stufe der Entwicklung virtueller Gemeinschaften. Der Roman sei nicht so wichtig, weil er eine technologische Entwicklung angezeigt, sondern weil sich durch seine Existenz eine neue Gemeinschaft herauskristallisiert habe.

"'Neuromancer' reached the hackers (ƒ), and it reached the technologically literate and socially disaffected (ƒ). In a single stroke, Gibson's powerful vision provided for them the imaginal public sphere and reconfigured discursive community that established the grounding for the possibility of a new kind of social interaction. (ƒ) 'Neuromancer' in the time of Reagan and DARPA is a massive intertextual presence not only in other literary productions of the 1980s, but in technical publications, conference topics, hardware design, and scientific and technological discourses in the large."

Die VR-Forschungen, die schon seit vielen Jahren bestanden, hätten zum einen plötzlich durch den Cyberspace-Begriff einen neuen Popularitätsschub bekommen. Zum anderen sei unter den verstreuten Forschern und Technikern, die abhängig waren vom Erfolg der beteiligten Firmen und Labore, eine neue Identität gestiftet worden; sie hätten sich selbst als Gemeinschaft erkennen können - dazu befähigt durch Gibsons Buch und das Technoimaginäre, das es artikulierte.

Die "Erzählmaschine" des Cyberspace

Gibson ging bei dem anfangs erwähnten Workshop ausführlich darauf ein, wie seine literarische Vision des Cyberspace zu Stande kam. Dieser digitale Raum hat für ihn nicht nur eine inhaltliche Funktion als Schauplatz für Action-Handlungen, sondern er ist so etwas wie eine "Erzählmaschine", die dem Autor das schnelle Umschalten von Orten und Dimensionen erlaubt ohne die Protagonisten erst mühsam reale Szenen durchqueren lassen zu müssen.

"What I wanted, was something that allowed access to the formal narrative territory of cinema, something that would give me the literary equivalent of an editing table. I wanted to be a able to move the characters spatially without having to walk them between the points. So I warm up with the idea of projecting them into a sort of imaginary cybernetic territory, where I can than shift them around electronically. As I began to work with that, I think I realize that it would also providing me with a sort of metaphoric handle which to examine the world of media which we all inhabit."

Der Cyberspace sei sein eigenes Fantasiekonstrukt: eine Informationssphäre, in der man Bewegungen sehen könne. Er verwies darauf, dass der Cyberspace sich im Verlauf der Trilogie verändert: von einem virtuellen Raum, in dem Daten durch Neonstrukturen repräsentiert seien, hin zu einem Zustand, in dem der Cyberspace alles sei - eine Art "Bioware", in die manche der Charaktere übersiedeln. Ihn erstaunte es, dass jemand eine solche Existenzform im Cyberspace überhaupt für wünschbar halten könnte - wollten vorher manche Raumfahrt betreiben, zöge es nun einige offenbar in den Cyberspace. Er hat das Interesse an seinem Cyberspace zuletzt verloren, aber nicht das an der Virtuellen Realität. Zwei Jahre nach dem Workshop wird er seinen Roman Virtuelles Licht publizieren.

Alternative Visionen der Virtualität

1982 kam der Disney-Film Tron in die Kinos (siehe: Der Sturz in den Cyberspace). Dieser Film präsentierte - bei allen Schwächen der Story - zum ersten Mal eine fiktive computererzeugte Parallelwelt, in der die Figuren agierten. Gibson hat die Veröffentlichung des Films folgendermaßen zur Kenntnis genommen:

"Wenn man zurückgeht und die Omni-Ausgabe vom Juli 1982 hervorkramt, die meine Story 'Burning Chrome' enthält, wird man auch eine herrlich bebilderte Aufschlagseite über Tron sehen, die, glaube ich, kurz vor dem Start des Films gebracht wurde. Meine Reaktion zu der Zeit war: 'Oh, Scheiß ...' Ich habe es immer noch nicht fertiggebracht, den Film zu sehen."

Offenbar ist die Vorstellung, dass sich Tausende Menschen hinsetzen, allein weil sie Neuromancer gelesen haben, wie Jack Womack fantasiert, etwas überzogen (auch wenn Allucquere Rosanne Stone ähnliches behauptet und die spezifischen Effekte des Buches hervorhebt). Gibson hat in der SF weder das Konzept der Virtuellen Realität erfunden - Autoren wie Stanislaw Lem, Herbert W. Franke, Roger Zelazny oder Daniel F. Galouye schufen hierfür einschlägige Werke in den sechziger Jahren8 -, noch in den Achtzigern die einzige imaginäre Vorlage für die Virtualität geliefert. Der zeitweilige Chef der Firma Autodesk, John Walker, spricht diesen Umstand in einem Text an, der zuerst als internes Firmenpapier zirkulierte.

"Der Gedanke, Benutzer irgendwie in einen Computer zu versetzen und sie direkt mit einer virtuellen Welt interagieren zu lassen, ist in der Science Fiction in aller Ausführlichkeit durchgespielt worden. Die späteren Heechee-Bücher von Frederik Pohl, Autoren des 'Cyberpunk'-Genres wie William Gibson und Rudy Rucker und Filme wie Tron haben ausgekundschaftet, was wir finden und was wir werden, wenn wir in diese selbstgeschaffenen Welten hineingehen."

Gibson lieferte nur die rasantesten und ästhetisch raffiniertesten Begleittexte für eine Entwicklung, die auch sonst passiert wäre und die auch von anderen Autoren imaginiert wurde. Der Vorteil seines Cyberspace-Konzepts war der Gedanke der Vernetzung, beziehungsweise des dezentralen Zugangs, und der Vielgestaltigkeit seiner virtuellen Formen, was es kompatibel machte mit diversen Technologie-Bildern, während Tron nur eine einzelne "Spielwelt" zeigte und Wahre Namen mit seiner Idee der Avatar-Repräsentation in realistisch simulierten Umwelten eher Stephensons Snow Crash vorwegnahm.

Gibson hat also streng genommen nicht die Welt handfest verändert, sondern das zu seiner Zeit gültige und bis in die Gegenwart wirkungsmächtige Symbol verdichtet, in dem VR-Forschungen u.a. sich artikulieren können und die Gesellschaft sich spiegelt ohne großen Wert zu legen auf die technischen Feinheiten. Er hat die Vorstellungskraft angefeuert und ein genial eingängiges Wort geschaffen, das vermutlich noch in vielen Jahrzehnten existieren wird. Da hat Womack Recht, man wird sich an Gibson erinnern - wenn auch vor allem an den Schöpfer des Cyberspace-Wortes.