Gewalt und Berichterstattung

Die Steinewerfer und Brandstifter von Rostock haben den Medien einen Freibrief dafür ausgestellt, die Gewalt von Staatsbediensteten zu bagatellisieren

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Die Gewalttaten von Demonstranten beim großen Auftakt der Proteste gegen den G8-Gipfel standen von Samstag bis Montag im Mittelpunkt der Medienberichterstattung. Sie sind in Bild und Ton ausgiebig dokumentiert worden. Die Vertreter des Aktionsbündnisses haben sich mit aller wünschenswerten Klarheit von der Gewalt einer Minderheit von Demonstrationsteilnehmern distanziert und dabei auf jegliche Beschönigung verzichtet.

Ob es gelingt, den Fokus in den kommenden Tagen doch noch auf Inhalte und die attraktiven Bilder aus der Protestbewegung zu lenken, steht keineswegs fest. Das Erschrecken nach den Gewalteskalationen ist groß. Die nunmehr vorgegebenen Schlagzeilen nähren nicht unbedingt die Hoffnung auf eine objektive und vielseitige Berichterstattung über die Protestwoche.

Sind Bilder über Polizeigewalt Tabu?

Selbst Medienleute, die im Vorfeld der Proteste nicht auf Gewaltschlagzeilen hingearbeitet haben, werden sich schwer tun, auch die Gewalt auf Seiten der Staatsmacht zu thematisieren. Zu schnell steht man unter dem Verdacht, auf diese Weise die drastischen Gewaltakte von Demonstranten zu verharmlosen. Doch zumindest die Frage muss erlaubt sein, ob sich z.B. die Polizei nachmittags zum Ende der Demonstrationszüge wirklich konsequent an die zugesagte Deeskalationsstrategie gehalten und auf die Beschädigung eines Polizeifahrzeuges klug reagiert hat (vgl. Polizeipsychologe Sieber spricht von "einsatztechnischer Dummheit").

Am Abend gab es in Rostock Wasserwerfer- und Tränengaseinsätze gegen größere Teile der Protestversammlung, deren Sinn bis zur Stunde noch nicht einleuchtend erklärt worden ist. Anschließend haben Polizeitrupps, z.T. fast wie schwarze „Zukunftskrieger“ gekleidet, wiederholt und brutal auf gewaltfreie Demonstranten eingeprügelt und ihren Aggressionen freien Lauf gelassen. Man kann und muss die Hintergründe solcher Ausfälle beleuchten, in dem man etwa die Kasernenunterbringung der Beamten, ihre nervenaufreibend lange Einsatzbereitschaft, Angst und auch Wut über Steinattacken auf Kollegen in Rechnung stellt. Dennoch darf Polizeigewalt gegen friedliche Globalisierungskritiker nicht ausgeblendet werden, wenn gesellschaftliche Lernprozesse möglich sein sollen.

Tatsächlich jedoch sind Bilder maßloser staatlicher Gewalttätigkeiten, deren Zeuge der Verfasser am Samstag als Demonstrationsteilnehmer in Rostock war, im Medienangebot so gut wie nicht vertreten (wenn sie im Einzelfall doch als Ausschnitt zu sehen sind, bilden irritierende Bildunterschriften oder Tonkommentare den Normalfall). Gleichzeitig wird von Politikern wie dem bayrischen Innenminister Günther Beckstein Kritik an einem zu zahmen Polizeieinsatz vorgetragen.

Wie aber sollen Bürger, die friedlich ihre Grundrechte ausüben und dabei Ziel von Polizeischlagstöcken werden, auf diese Weise das Gefühl bekommen, auch ihre Belange würden ernst genommen? Wie soll auf diese Weise ebenfalls gewährleistet werden, dass sich die Polizei bei ihrem Vorgehen – auch abseits optisch attraktiver „schwarzer Blocks“ – von einer sensiblen Medienöffentlichkeit beobachtet fühlt? Für zukünftige Großveranstaltungen sollten die Organisatoren des politischen Protestes überlegen, einen großen Pool eigener Kameraleute und Fotografen zu bilden und ihre alternativen Medienangebote erheblich zu erweitern. Außerdem lohnt sich eine sorgfältige Medienanalyse. Wenn etwa in Videozusammenschnitten die chronologische Bildabfolge kreativ zugunsten der erwünschten Dramaturgie abgeändert wird, kann von objektiver Berichterstattung keine Rede sein.

Alle Seiten haben ein Recht, gehört zu werden

Beunruhigen sollte die kritiklose Übernahme kollektiver Feindbilder, die sich vor allem in der allenthalben verbreiteten Pauschalrede von „den Autonomen“ niederschlägt. In einem Großteil der organisierten radikalen Linken im Lande hat sich schon im Vorfeld des G8-Gipfels ein Konsens darüber entwickelt, dass Gewalt – also die unpolitischste und kontraproduktivste Aktionsform – für Heiligendamm nicht in Frage kommt. Diese Entwicklung sollte man zumindest differenziert zur Kenntnis nehmen. Man muss dabei ja nicht gleich von einem neuen „autonomen Pazifismus“ sprechen, zumal es im äußerst heterogenen und bundesweit keineswegs einheitlich organisierten Spektrum noch immer die ewiggestrigen „Gewaltromantiker“ gibt.

Alle Seiten haben ein Recht, vorurteilsfrei gehört zu werden. Die Düsseldorfer Feministin und Friedensaktivistin Monika Schierenberg hat dem Verfasser von folgender Begegnung in Rostock berichtet. Am Samstagabend stieß sie auf einen sichtlich unter Schock stehenden Jugendlichen aus Aschersleben nahe Magdeburg, der an seiner Kleidung ein Antifa-Zeichen trug. Aufgeregt erzählte der Jugendliche ihr, er sei gerade von fünf Polizisten als einzelner in eine leere Seitenstraße getrieben worden. Dort habe er sich dann ausziehen und seine Taschen entleeren müssen. Anschließend habe ihn einer der Polizisten gefragt, was man denn nun mit ihm machen solle, es seien ja auch „keine Zeugen auf der Straße“ da. Schließlich wurde der Jugendliche mit einem bloßen Platzverweis wieder entlassen. Das Gespräch mit der Polizei hatte ihn aber offenkundig unter großen psychischen Druck gesetzt, denn mehrfach wiederholte er: „So etwas will ich nie wieder erleben!“

Die Glaubwürdigkeit des jungen Demonstranten, so Schierenberg, sei in ihren Augen groß gewesen. Auf Nachfrage hin habe er nämlich betont, dass die Polizisten keine körperliche Gewalt an ihm ausgeübt hätten. Auch Menschen, deren Szenebekleidung manchen als auffällig gilt, können Opfer ungerechter Behandlung werden, und die Folge davon muss nicht unbedingt sein, dass sie sich zukünftig auf keiner Protestveranstaltung mehr blicken lassen. Das gilt unabhängig davon, ob der wiedergegebene Betroffenenbericht in allen Details zutrifft.

Wie schnell aus Walden Bello ein Bellizist werden kann

Nachdenklich machen sollte das folgende Beispiel aus der Rostock-Berichterstattung. In einem – inzwischen vom Netz genommenen – „Minutenprotokoll der Ereignisse“ meldete Spiegel-Online am Sonntag noch:

[18:30] Auf der Kundgebungsbühne stachelt ein Redner die militante Szene auf: „Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen. Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.“

Die Zeitangabe ist um mindestens 45 Minuten zu spät angesetzt. Der zweite Teil des Zitates ist frei erfunden, der erste Teil völlig willkürlich und sinnentstellend wiedergegeben. Der besagte Redner war der alternative Nobelpreisträger Walden Bello. Der Verfasser hat seine englischsprachige Rede vor Ort gehört. Der für jeden Zuhörer nachvollziehbare Gedankengang Bellos war: Die Mächtigen möchten nicht, dass die Kriege, besonders auch der Irak-Krieg der USA, auf dem G8-Gipfel zum Thema werden:

Today, we do not marginalize the issue of war [...], but make it central to our demands. We say, the US and Britain must withdraw from Iraq immediately.

Zitiert nach einer Pressemitteilung von Attac

Der Protest, so Bello, solle den Krieg also in dieses „Meeting“ hineintragen, denn: „There is no peace without justice.“ Im Kontext war völlig klar, dass das „Hineinbringen“ thematisch gemeint und gegen eine von der Kriegsordnung abgekoppelte Armutsdiskussion gerichtet war. Der Zielpunkt des Redeabschnitts lautete: „Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben.“ Er hätte geradezu aus einer der Papstenzykliken von Paul VI. oder Johannes Paul II. zitiert werden können. Walden war als Sprecher eines globalisierungskritischen Netzwerkes in den Entwicklungsländern eingeladen worden.

Inzwischen hat Spiegel-Online den betreffenden Passus der Ereignischronologie und die Überschrift „Wir müssen den Krieg in diese Demo tragen“ gelöscht und als Fehlerquelle einen für den Ticker benutzten dpa-Bericht angegeben:

Die Agentur dpa hatte sich zuvor gegenüber SPIEGEL ONLINE darauf berufen, dass ein Veranstaltungsteilnehmer auf der Bühne Bello übersetzt und wie in der dpa-Meldung vom Samstag wiedergegeben hätte. SPIEGEL ONLINE bemüht sich derzeit, einen kompletten Mitschnitt der Veranstaltung zu bekommen, um dies zu überprüfen. SPIEGEL ONLINE bedauert, die fehlerhafte Übersetzung von dpa übernommen zu haben.

Immerhin, eine Richtigstellung ist ansatzweise erfolgt und eine Textdokumentation des gesamten Kontextes nach den Originalmitschnitten darf von Spiegel-Online wohl erwartet werden. Doch wie viel Vertrauen soll man in die Medienberichterstattung setzen, wenn derart mutwillige Verzerrungen in Mainstream-Organen die Runde machen können?

Ziviler Ungehorsam und Kriminalisierung

Eine nahe liegende Frage nach den Gewalttätigkeiten von Rostock wäre, welche Ressourcen zur intelligenten Konfliktlösung und Deeskalation der Gesellschaft denn zur Verfügung stehen. Wo wird an modernen Methoden gearbeitet und wie hoch sind die Budgets für entsprechende Forschungszweige? Wenn irgend Erträge solcher Forschungen in der Praxis angekommen sein sollten, wird man den Einsatz tief fliegender Hubschrauber über Camps und Protestveranstaltungen augenblicklich einstellen.

Die Medien könnten – abgesehen von einem Verzicht auf jegliches sich selbst erfüllende Einheizen – schon jetzt einen bedeutsamen Beitrag zur Kultur der Gewaltfreiheit leisten, in dem sie politische Ausdrucksformen des zivilen Ungehorsams – mit gezielt begangenen Ordnungswidrigkeiten, aber unter Verzicht auf Gewaltanwendung – in ihrer Berichterstattung zumindest unvoreingenommen würdigen. Für Gewalt – auf welcher Seite und in welcher Form auch immer – darf es keinerlei Sympathie geben. Gewaltfreie Formen eines deutlichen politischen Protestes haben hingegen jede Sympathie verdient, denn sie sind – wenn der Unmut über die herrschende Politik einen hohen Grad erreicht – die einzige Alternative zur Eskalation. Für sie sollte es in den Medien mehr Raum geben als für Bilder von Straßenschlachten.

Gerade in dieser Woche sollten Tendenzen, die das Konzept des zivilen Ungehorsams kriminalisieren und diskriminieren, keine Chance erhalten. Dass solche Tendenzen durchaus im Trend liegen könnten, zeigt z.B. ein im letzten Jahr erschienenes Studienhandbuch „Gewalt und Medien“ von Michael Kunczik und Astrid Zipfel.1 Die Verfasser, die bereits 2004 einen Projektbericht über Medien-und-Gewalt-Forschungen für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellt haben, widmen in ihrem umfangreichen Werk der staatlichen Gewaltausübung nur wenige Passagen, beschränken sich beim Thema „Krieg“ auf sechs Nebenbemerkungen und ergänzen die problematische Rede von „legitimer Gewalt“ oder „gerechtfertigten Gewaltdarstellungen“ nicht mit ideologiekritischen Überlegungen. Unter der Überschrift „Terrorismus“ heißt es im Buch:

Bereits Mahatma Gandhi, der "Apostel der Gewaltlosigkeit", hat im Befreiungskampf gegen die Briten erfolgreich gewalttätige Pseudo-Ereignisse inszeniert, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu gewinnen… Er … ließ zu, dass mehrere tausend Demonstranten von Polizisten mit langen Stöcken, deren Spitzen mit Stahlnägeln versehen waren, zusammengeschlagen wurden.

So wäre es denn letztendlich Gandhi selbst gewesen, der damals den blutigen Einsatz von Stahlnägelstöcken als „Pseudo-Gewalt“ provoziert und zu verantworten hätte? Es ist absehbar, dass die politischen Auseinandersetzungen der näheren Zukunft an Intensität zunehmen werden. Wir können nur hoffen, dass die Botschaft eines Mahatma Gandhi heute von sehr vielen Menschen gehört wird und zwar anders, als dies im zitierten Standardwerk „Gewalt und Medien“ der Fall ist.