Evolution statt Big Bang

Die Maschinenbaubranche ruft die vierte industrielle Revolution aus: Die Fabrik der Zukunft sei vernetzt und autonom und dadurch flexibler und sparsamer. Mut macht, dass in der Industrie 4.0 der Mensch wieder mehr im Mittelpunkt steht.

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Von
  • Bernd Müller

Die Maschinenbaubranche ruft die vierte industrielle Revolution aus: Die Fabrik der Zukunft sei vernetzt und autonom und dadurch flexibler und sparsamer. Mut macht, dass in der Industrie 4.0 der Mensch wieder mehr im Mittelpunkt steht.

In der Industrie dauern Revolutionen etwas länger. Von der ersten industriellen Revolution mit dem Siegeszug der Dampfmaschine bis zur zweiten – der Einführung der Fließbandarbeit – vergingen über hundert Jahre. Die dritte industrielle Revolution durch die Verbreitung der Automatisierungstechnik folgte Ende der 1970er Jahre. Doch jetzt geht es schneller: Schon steht die vierte industrielle Revolution vor der Tür – zumindest nach Meinung mancher Wissenschaftler und Fabrikexperten. Danach wird die Fabrik der Zukunft smart und vernetzt sein, Maschinen und Werkstücke mutieren zu so genannten Cyber Physical Systems, die dank Sensoren, Aktoren und kleinen eingebetteten Rechnern ihre Produktion selbst organisieren – und das sogar über Unternehmensgrenzen hinweg.

Bisher wird das Thema vor allem unter technischen Gesichtspunkten diskutiert. Das ging schon vor 30 Jahren schief, als ein ähnlicher Ansatz – Computer Integrated Manufacturing (computergestützte Fertigung) – viel zu technokratisch aufgezogen worden war. Der Verein Deutscher Ingenieure hat das erkannt. In der Studie Automation 2020 fragte der Verein seine Mitglieder unter anderem, womit sie sich in den Betrieben herumschlagen. Viele gaben an, dass ihnen in der Automatisierung die zunehmende Komplexität zu schaffen mache und das obwohl Cyber Physical Systems noch weitgehend Zukunftsmusik sind. Willi Fuchs, Direktor des VDI, folgert daraus: Ingenieure müssen sich regelmäßig weiterbilden, um ihre Qualifizierung auf dem aktuellen Stand zu halten. Für Birgit Vogel-Heuser hat die Automatisierungstechnik heute zu lange Lebenszyklen, um mit dem Umbruch durch Industrie 4.0 Schritt zu halten. Damit meint die Professorin für Automatisierungs- und Informationssysteme an der Technischen Universität München aber nicht nur die lange Lebensdauer von Maschinen von teils 20 oder mehr Jahren, indirekt zielt sie damit auch auf das Beharrungsvermögen der Ingenieure und ihrem Festhalten an dem, was sie vielleicht vor 20 Jahren einmal an der Hochschule gelernt haben. Vogel-Heuser: „Für Cyber-Physical-Systems muss die Automatisierungsbranche schneller werden.“

„Industrie 4.0 ist kein Big Bang, sondern eher eine Evolution“, meint Dieter Wegener, Leiter Vorfeldentwicklung bei Siemens Industry. Diese (R)evolution habe schon vor einigen Jahren begonnen. Seit gut einem Jahrzehnt betrachtet die Informations- und Kommunikationsbranche die Automatisierung als Teil ihres Zuständigkeitsbereichs, früher war sie ein Hilfsprodukt des klassischen, mechanikdominierten Maschinenbaus. Das Ziel liegt irgendwo in der Mitte und Industrie 4.0 soll beide Sichtweisen vereinen. Hinzu kommen weitere Trends, etwa durch Künstliche Intelligenz, die zunehmende Bedrohung der IT-Sicherheit auch in Produktionsbetrieben oder die Fortschritte beim Additive Manufacturing, das neuerdings dank 3D-Druckern auch für den kleinen Geldbeutel erschwinglich wird.

Während VDI-Direktor Fuchs im Trend zu Industrie 4.0 ein Beispiel für Technology Push sieht, also eine Technologie, die erst einen Markt entwickeln muss, hält Wegener dasselbe Thema für einen Demand Pull, also getrieben von der Marktnachfrage. „Der eigentliche Treiber hinter Industrie 4.0 ist die Ressourceneffizienz“, sagt der Siemens-Manager. Die Industrie muss Energie und Rohstoffe einsparen und die Auswirkungen auf die Umwelt verringern.

In einem wichtigen Punkt waren sich die Referenten auf dem VDI-Kongress „Industrie 4.0“ Ende Januar in Düsseldorf einig: Fabriken mit intelligenten, autonomen und vernetzten Produktionseinrichtungen sind nicht das Ende von Menschen in der Fabrik – im Gegenteil. Nach Jahrzehnten der Rationalisierung rückt der Mensch wieder in den Mittelpunkt. Technologie soll ihn nicht ersetzen, sondern vielmehr bei komplexen Aufgaben unterstützen.

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Die simulierte Fabrik

Die Fabrik der Zukunft ist enorm komplex – das macht auch die Planung der Produktionsprozesse anspruchsvoller. Schon heute werden Fabriken am Computer entworfen, etwa das Layout von Maschinen, Förderbändern und Arbeitsplätzen so angeordnet, dass der Materialfluss möglichst optimal ist. Fabrikplanungsprogramme wie Plant Simulation von Siemens sind auch künftig notwendig, ausreichen werden sie aber nicht. Sie sind nur ein Baustein neben ERP-Systemen (Enterprise Ressource Planning) – das bekannteste ist von SAP – und Systemen zum Produktdatenmanagement. Diese Bausteine wird es in der Fabrik 4.0 weiter geben, doch künftig werden diese Systeme statt auf getrennte Datenbanken auf einen gemeinsamen Datenpool mit vielen Terabyte zugreifen, in dem die Informationen in Dateiformaten liegen, die jede Software im Unternehmen lesen kann. Nur so lassen sich die Fragen der Fabrikplaner ganzheitlich beantworten: Welcher Fertigungsprozess bringt die höchsten Stückzahlen bei geringsten Kosten, wie lassen sich Arbeitsplätze ergonomisch gestalten und welcher Fabrikstandort verspricht eine reibungslose Versorgung mit Zulieferteilen? „Sowohl bei den Investitionskosten als auch bei den Herstellkosten können so hohe Einsparungen erzielt werden“, erklärt Joachim Bauer, Vertriebsdirektor für DELMIA in Zentraleuropa bei Dassault Systèmes.


Mit DELMIA haben die Franzosen eine Software mit mehr als hundert verschiedenen Modulen im Angebot, die den Planungsprozess beschleunigt und automatisiert – und das in 3D. Statt kryptischer Tabellen mit Kennzahlen zeigt das Programm die Auswirkungen einer Umplanung direkt in einer dreidimensionalen Ansicht. Ein Beispiel: Weil die Farbe Rot plötzlich modern ist, bestellen Kunden verstärkt Autos mit roten Ledersitzen. Die Bestellungen laufen wie üblich ins ERP-System. Doch die Bestellflut hat auch Konsequenzen für die Produktion: Am Fließband muss neben den schwarzen Sitzen Platz geschaffen werden für mehr rote Sitze. DELMIA simuliert, ob der Platz ausreicht und wie man die Sitze anordnen muss, damit der Werker keine Zeit beim Einbau verliert. Bauer: „3D ist das Kommunikationsmittel der Zukunft.“

Ein Beispiel für den Wandel in der Denkweise ist die Robotik. Während Industrieroboter heute hinter Sicherheitszäunen stumpfsinnige Schwerstarbeit verrichten, sollen künftig Leichtbauroboter dem Menschen zur Hand gehen, ganz ohne Zaun und starre Steuerung. „Der Mensch sollte mehr als nur der Bediener von Technik sein“, fordert Peter Terwiesch, Vorstandsvorsitzender von ABB. Damit sich dieser wohlfühlt, passen sich die Roboter im Design und in ihrem Verhalten an. ABB hat Frida gebaut, ein Roboter, der wie ein durchtrainierter Bodybuilder aussieht, der aber so programmiert ist, dass er seinen Partner aus Fleisch und Blut nicht verletzt. Noch zartfühlender, aber doch mit raschem Zugriff, arbeitet der bionische Handhabungsroboter. Für den Elefantenrüssel mit Greiffingern hat die Esslinger Firma Festo 2010 den Deutschen Zukunftspreis gewonnen.

Für den Festo-Vorstandsvorsitzenden Eberhard Veit ist der bionische Handhabungsassistent ein typischer Baustein von Industrie 4.0. Aber Technologie allein reicht nicht. Neue Organisationsformen innerhalb von Unternehmen und mit ihren Partnern sind ebenso wichtig. „Cluster und Open Innovation sind die Voraussetzung für Industrie 4.0“, sagt Veit. Das macht Sinn, schließlich nützt die beste technische Vernetzung nichts, wenn an den Werkstoren oder in den Köpfen der Mitarbeiter unsichtbare Barrieren bestehen. Der Wille zur unternehmensübergreifenden und interdisziplinären Zusammenarbeit ist der Nährboden für die Fabrik der Zukunft.

Der Elefantenrüssel zeigt, wie die Natur Vorbild für die Fabrik sein kann. Die Analogie zwischen Biologie und Betrieb geht nach Meinung von Olaf Sauer noch viel weiter – bis ins „Erbgut“. Der Stellvertreter des Institutsleiters am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung in Karlsruhe hat gemeinsam mit anderen Fraunhofer-Instituten das Konzept der Fabrik-DNA entwickelt. Diese besteht aus einer Dreifach-Helix, angelehnt die Doppelhelix des biologischen Erbguts. Die drei Stränge sind Informationstechnik, Produkt und Produktion, standardisierte Schnittstellen für den Informationsaustausch entsprechen den vier Basen in der Biologie. Auch wenn diese Analogie etwas weit hergeholt erscheint, die Grundidee überzeugt: Produkte sind künftig so intelligent, dass sie ihren Zusammenbau selbst in Abstimmung mit den Produktionseinrichtungen und der Planungssoftware im Betrieb organisieren. Die Fabrik-DNA steckt in jedem einzelnen Bauteil und in jeder Maschinenkomponente, zusammen organisieren sie sich zu einem autonomen „Organismus“.

„Autonomie heißt aber nicht Anarchie“, sagt Olaf Sauer. Auch weiterhin gebe es übergreifende Planungsservices, die allerdings nicht in einem zentralen Rechner stecken müssen, sondern als Module in der Cloud, aus der sich jede Komponente in der Fabrik den Service und die Informationen holt, die sie braucht. Die traditionelle Aufgabenverteilung der Automatisierungspyramide mit den Produktionseinrichtungen unten und der Ressourcenplanung des Unternehmens mittels Enterprise Ressource Planning oben hat ausgedient. Sauer: „Die Automatisierungspyramide, wie wir sie bisher kennen, wird sich in absehbarer Zeit auflösen.“ Funktionen wie Maschinen- und Betriebsdatenerfassung (Manufacturing Execution System) werden sich nach unten in die Automatisierungs- und Maschinenebene verlagern, während die Fertigungsplanung nach oben wandert in das ERP-System, das in vielen Betrieben eine Software von SAP ist. Auf der Hannover-Messe zeigt der Fraunhofer-Stand bereits erste Ansätze der Produktions-IT-Services in der Cloud.

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Wandelbare Maschinen

Losgröße 1: Die Industrie versteht darunter die Herstellung von Einzelstücken – im Gegensatz zur Massenfertigung mit Losgrößen mit Millionenstückzahlen. Auch an Werkzeugmaschinen geht der Trend zu individueller Fertigung mit immer geringeren Stückzahlen nicht vorbei. Immer häufiger bestellt die Automobilindustrie deshalb so genannte Transfer- oder Inversmaschinen, bei denen die Werkzeuge in Kassetten ausgetauscht werden. Das Werkstück, das früher fest in der Mitte der Maschine montiert war, bewegt sich in diesen neuen Maschinen auf die Werkzeuge zu. Vorteil: Die gleiche Maschine lässt sich schnell für neue Aufgaben umrüsten.


Im Projekt EffiPro (Effizienzsteigerung in der Produktion durch agentenbasierte Fertigungssystemplanung) haben das Institut für Werkzeugmaschinen IfW und das Institut für Automatisierungs- und Softwaretechnik IAS der Universität Stuttgart Konzepte für die Werkzeugmaschinensteuerung der Zukunft entwickelt. Fünf Software-Agenten – autonome Programme, die untereinander kommunizieren und ihr Verhalten abstimmen – planen die beste Strategie zur Bearbeitung eines Werkstücks über die gesamte Produktionslinie hinweg. So gibt es einen Agenten der das Werkstück analysiert und das geeignete Fertigungsverfahren wählt, ein anderer konfiguriert die Produktionslinie und stimmt Taktzeiten der Transferzentren ab. So eine Planung dauerte bisher Monate, die Agenten sollen das viel schneller und ohne Eingriff des Menschen schaffen. Schnell dürfte sich die Agententechnologie allerdings nicht durchsetzen, denn Werkzeugmaschinenhersteller sind konservativ. Dennoch glaubt Projektleiter Thomas Stehle, dass die Agententechnologie in der Industrie Fuß fasse, weil der Druck auf die Maschinenbauer vor allem aus der Automobilindustrie wachse.

Wenn jeder Sensor, jeder Motor und jede Maschine Informationen über sich enthält, etwa über das Bearbeitungstempo oder den Bewegungsraum, lassen sich komplexe Maschinensysteme viel einfacher zusammenstellen. „Damit schaffen wir eine Verbindung zwischen der virtuellen Welt, der Informationstechnologie und einem physischen System“, erläutert Gerd Hoppe, Mitglied der Geschäftsführung bei Beckhoff Automation.

Mehr Autonomie der Cyber Physical Systems sei nicht unbedingt das Ziel, findet Klaus Bauer, Entwicklungsleiter für Basistechnologien bei Trumpf Werkzeugmaschinen. Wichtiger sei die Robustheit und Sicherheit einer Anlage. Industrie 4.0 biete endlich eine Schnittmenge und eine gemeinsame Sprache, damit sich Maschinenbauer, Elektrotechniker und Informatiker besser verstünden. Genau daran ist Computer Integrated Manufacturing gescheitert. Die Akteure nutzten nicht dieselbe Sprache, außerdem kochte jeder Hersteller sein eigenes Süppchen, fernab von jeglichen Standards.

Damit Cyber Physical Systems die Fabrik erobern können, sind billige und kompakte Kommunikationskomponenten notwendig, die im Prinzip in jeden Sensor oder Motor eingebaut werden können. SmartFactory, ein Demolabor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, hat einen Demonstrator entwickelt, der so klein ist wie drei Zuckerwürfel und WLAN- und Ethernetanschluss hat und mit dem Standard-Kommunikationsprotokoll OPC-UA läuft. Preis derzeit: 36 Euro.

Zahlreiche Unternehmen arbeiten inzwischen an ganz praktischen Dingen, die man im Fabrikalltag auch in Zeiten von Industrie 4.0 brauchen wird. Zum Beispiel an intelligenten Transportbehältern. Würth Industrie Service hat I-Bin entwickelt, den mitdenkenden Teilebehälter. Eine Kamera behält den Füllstand im Auge, der Behälter weiß zudem, mit welchen Teilen er befüllt ist und wie lange der Vorrat noch reicht. Geht der Inhalt zur Neige, bestellt I-Bin automatisch Nachschub beim Warenwirtschaftssystem. Der schlaue Behälter automatisiert zum Beispiel das aus Japan stammende und auch hierzulande verbreitete Kanban-System, bei dem die Teileversorgung über Pappkarten und Handscanner gesteuert wird.

Der Mehrwert von I-Bin steckt in der Software und in der Kommunikationsmöglichkeit. Darauf muss sich die Maschinenbaubranche erst einstellen. Software wird immer mehr zum Kern der Maschinen, doch die Hersteller haben wenig Erfahrung in der Entwicklung von Programmen und schon gar nicht, wie man diese vertreibt. Viele Firmen verschenken die Software einfach zu ihrer Maschine. „Das ist falsch“, warnt Olaf Sauer vom Fraunhofer IOSB, „Software ist ein Stück der Maschine und für die müssen die Hersteller Geld verlangen.“ (jlu)