Entschieden daneben – die Mass-Effect 3-Kontroverse

Mass Effect 3 schließt die Rollenspieltrilogie ab – oder auch nicht, finden wütende Fans

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Sind Spiele Kunst? Die Akzeptanz der Gesellschaft hält sich in Grenzen, während anderen Medien dieses Qualitätsmerkmal blind zugeschrieben wird – trotz deren Auswüchse z.B. von Trivialliteratur, Gebrauchsmusik oder B-Movies. Meist zeigt zwar erst die Zeit, ob die Wirkung eines Produktes künstlerische Bedeutung und allgemeine Wertschätzung erlangt, die Entwicklung eines Spieles ist dennoch zweifellos schon einmal ein kreativer Prozess: Musiker, Designer, Grafiker und Autoren sind an ihm beteiligt.

Das Genre der Rollenspiele hat ganz besondere Voraussetzungen dazu, Kunstwerke hervorzubringen. Ähnlich wie der Roman ermöglicht es seinem Konsumenten die Identifikation mit der Hauptfigur und die Integration in seine Geschichte: Er erlebt die Welt aus dessen Perspektive und hat Zugang zu seinem Innenleben – zu Gefühlen und Stimmungen. Weit über die Beobachtung gedanklicher Monologe hinaus empfindet der Spieler nicht nur mit, sondern fällt in einem Rollenspiel Entscheidungen, die den weiteren Verlauf der Geschichte beeinflussen können – so zumindest lautete das Versprechen der Macher der Mass Effect-Trilogie für Xbox 360 und PC. Am Fall dieses kommerziellen Beispiels wird gleichzeitig aktuellen Möglichkeiten und künstlerischen Ambitionen des interaktiven Mediums ein Problem aufgezeigt.

Nach viereinhalb Jahren wurde Anfang März Mass Effect 3 veröffentlicht und Fans bereiteten sich gespannt auf das von Entwickler BioWare angekündigte Endspektakel vor. Was sie bekamen, enttäuschte sie so sehr, dass die Mehrheit nun lauthals eine Nachbesserung der alles entscheidenden Schlusssequenz fordert – mit teils sympathischen Aktionen wie dem Cupcake-Protest .

Die Unzufriedenheit der Fans über die drei möglichen Enden, die sich kaum mehr als in ihren Farben unterscheiden, bezieht sich weniger auf den Mangel an ausreichender Interaktion oder ihre für eine epische Science-Fiction-Saga würdelose Abhandlung als vielmehr auf die völlige Ignoranz der zuvor vom Spieler getroffenen Entscheidungen.

In Hunderten von Spielstunden Mass Effect gab es verschiedene kleinere Richtungen einzuschlagen, deren Missachtung allein aufgrund technischer Limitationen unserer Zeit verschmerzbar ist. Aber selbst bedeutende Entscheidungen an Wendepunkten der Geschichte finden zum Schluss kaum Auswirkungen bzw. werden schlicht überschrieben – das macht die Spieler so wütend. Hat ihr Alter Ego Commander Shepard in den Vorgängern diplomatische Erfolge erzielt und verfeindete Alien-Rassen befriedet? Zum Schluss alles vergeblich. Auch seiner gepflegten Liebesaffäre wird keine weitere Beachtung geschenkt, Informationen über den Zustand befreundeter Mitstreiter werden ebenfalls vorenthalten.

Der faule Kompromiss des Endes von Mass Effect 3, der sich leicht auch hinsichtlich der immensen Produktionskosten und terminlichen Engpässe von Spielen erklären lässt, zeigt in welch einem Dilemma das Medium heute noch immer steckt. Seine Unreife als Kunstform (Ausnahmen bestätigen die Regel) wurzelt irgendwo im Konflikt zwischen Kunst und Kommerz.