Zermanschte Gehirne

Weil wir viel zu viel surfen, sorgt sich Nicolas Carr um unsere geistige Gesundheit und intellektuelle Leistungskraft

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Wer ständig oder zu viel online ist, verblödet auf Dauer. Das ist platt und prägnant zusammengefasst die Behauptung, mit der der US-Journalist und Blogger Nicolas Carr vor etwa zwei Jahren im Atlantic schon mal für große Auf- und Erregung im Netz gesorgt hat.

Damals richtete er den Finger noch und fast ausschließlich auf "die heilige Kirche Google". Jetzt hat er den "Verdummungsverdacht" breiter ausgewalzt, er hat dem Artikel eine Langversion an die Seite gestellt und ihn auf die gesamte Digitalkultur ausgeweitet. Womit Carr sogar die Aufmerksamkeit der BILD-Zeitung und ihrer knapp zwölfeinhalb Millionen Leser auf sich gezogen hat.

Verdummungsrisiko

Folgen wir Carr, dann lesen wir, seitdem das Netz und seine Applikationen unseren Alltag, unseren Beruf und unsere Kommunikation bestimmen, nicht nur oberflächlicher, lernen schlechter und erinnern uns schwächer, unsere Fähigkeit, sich länger auf einen Text oder eine Sache zu konzentrieren, fällt uns auch zunehmend schwerer. Statt uns linear, entlang der Konstruktion einer Erzählung oder der Argumentationsketten eines Autors zu bewegen, hangelten wir uns nur noch von Link zu Link, die den Text als solchen zerstörten.

Zwar stärkten wir mit diesem Tun unsere visuellen und taktilen Fertigkeiten, doch würden wir durch das ständige Klicken auf neue Webseiten und Links, das Abfeuern oder Empfangen neuer Mails, SMS oder Tweets, das permanente Gucken in unser Postfach oder das Prüfen des erreichten Status bei Facebook oder anderen sozialen Dienstleister immer hibbeliger, zerstreuter und ablenkbarer.

Netzgeschädigt

Als Beleg dienen Carr zunächst auch eigene Erfahrungen. Als er für einige Wochen und Monate seinen Netzkonsum auf Eis legte und sich selbstredend eine "Netzpause" gönnte, wurde er bald wieder viel ruhiger und gelassener als vorher. Er wurde ausgeglichener, "atmete freier" und konnte sich sogar wieder in einem Buch verlieren; und er konnte Gedankengänge nachvollziehen und in längere Prosa-Passagen abtauchen, ohne permanent in Gedanken abzuschweifen. Nur so war es beispielsweise möglich, eine schlüssige Argumentation zu entwickeln und dieses Buch mit mehreren hundert Seiten zu schreiben.

Als Beweis führt Carr aber auch eine Vielzahl hirnphysiologischer Studien an, die glaubhaft zeigen wollen, wie leicht formbar das menschliche Gehirn imgrunde ist. Der Umbau des Gehirns findet danach auf einer tieferen biologischen Ebene statt und betrifft die Art, wie sich Nervenzellen oder Neuronen miteinander verbinden. Carr ist überzeugt, dass übermäßiger Netzkonsum die Synapsen des Gehirns neu verknüpft und alsbald dazu führen wird, dass gründliches und verstehendes Lesen von Texten bald zu einer aussterbenden Kulturtechnik wird.

Belege dafür Und in der Tat scheint an Carrs Beobachtungen was dran zu sein. Wer selbst, gleich ob beruflich, dienstlich oder privat, ständig mit dem Netz zu tun hat, mit Tweets, SMS, Blogs oder Mails, wird das möglicherweise bestätigen können. Das Lesen längerer und vor allem diffiziler und komplexer Texte, kann bisweilen zum Kampf werden. Vor allem, wenn sie noch trocken abgefasst sind und wenig Kurzweil verströmen. Schnell verliert man die Lust, aber auch die Aufmerksamkeit, man driftet ab, wird unruhig und unkonzentriert. Noch im Urlaub dauert es oftmals mehrere Tage, bis man endlich wieder die nötige Ruhe findet, sich der Muße eines Buches hinzugeben, ohne ständig nach anderen Tätigkeiten zu suchen, die man viel lieber täte.

Und wer in jüngerer Zeit mal mit jungen Menschen gearbeitet hat, der wird nicht nur wissen, dass ADS und ADHS sowie der damit verbundene Ritalin- und Medinetkonsum, den Pädagogen und Psychologen meist auf exzessiven Medienkonsum zurückführen, den Lernalltag in den Klassenzimmern zunehmend erschweren; der wird auch wissen, dass das Bedienen von Touchscreens oder das Übermitteln von Popsongs oder Botschaften zwar bestens beherrscht werden, das Lesen und Denken, insbesondere das verstehende oder deutende, das eigenständige und exakte, aber nicht mehr. Von Behaltens- und Gedächtnisleistungen, die längerfristig abrufbar sind, von nachhaltigem Lernen und vom Stillsitzen, vom richtigen Schreiben und aufmerksamen Zuhören mal ganz zu schweigen.

Hinzu kommt, dass auch Verlage, Zeitungen und Magazine längst dazu übergegangen sind, die Länge ihrer Artikel zu kappen, ihnen Zusammenfassungen oder Navigationshilfen an die Seite zu stellen und sie mit Schlagzeilen, Bildern und Tönen aufzuhübschen, damit sich Inhalte leichter verdauen oder überfliegen lassen. Da beobachtet Carr durchaus richtig.

Nicht belegbar

Folgt man jedoch einigen US-Studien, die in den letzten Jahren zum Internetverhalten der User angestellt wurden, dann weicht der Intelligenzquotient, den exzessive Surfer aufweisen, nicht entscheidend von dem der realen Gesamtbevölkerung ab. Und zieht man noch den so genannten "Flynn-Effekt" zurate, der zeigen will, dass der Intelligenzquotient in den reicheren Gesellschaften stetig gewachsen ist, dann relativiert sich Carrs Behauptung gar auf dramatische Weise.

Der Eindruck, dass wir durch Facebook, Google und Co. irgendwie dümmer werden, lässt sich danach kaum erhärten. Eine von Internetdiensten irgendwie genervte oder gestresste Bevölkerung, laut Umfragen verbringen Bundesbürger im Schnitt zweieinhalb Stunden im Netz, scheint mit höheren IQ-Werten durchaus kompatibel zu sein. So düster, wie Carr die Lage malt, kann sie also nicht sein.

Seelisch verkümmert

Zweifellos leben wir in einer Zeit großer kultureller Umbrüche. Daran ist das Internet mit Sicherheit nicht ganz "schuldlos". Vernetzte Computer verändern unser Verhalten, aber auch unsere Expressivität und die Art, wie wir kommunizieren. Gewiss hält das Netz so manchen User vom Wesentlichen ab – wobei noch zu klären sein dürfte, was das denn dieses "Wesentliche" sein könnte.

Und gewiss zerstäubt die Vielzahl der ankommenden Botschaften, Nachrichten und Informationen Konzentration, Aufmerksamkeit und Gedankengänge des Users, er liest fortan hastiger, flüchtiger und sie hindert ihn daran, über gewisse Dinge mal ungestörter und intensiver nachzudenken.

Aber dass er dadurch gleich sein Einfühlungsvermögen verliert, wie Carr behauptet, und weniger leidenschaftlich wird als im analogen Leben, kann man aus all dem sicherlich nicht ableiten. Genau das Gegenteil scheint vielmehr der Fall zu sein. Liest man all die Messages, die in Blogs, auf Foren, in Chatrooms oder über Twitter und Facebook abgelegt werden, so hat der Beobachter eher den umgekehrten Eindruck.

Gerade dort kann von Entfremdung oder gar seelischer Verkümmerung keine Rede sein. Häufig würde man sich gern weniger Empathie, Vitalität und Emotionalität, dafür mehr Verstand, Abgeklärtheit und Nachdenklichkeit wünschen, wenn mal wieder über die Schlechtigkeit der Welt, die Verschlimmerung der Verhältnisse oder die Bösartigkeit der anderen gejammert, geheult oder voller Inbrunst gestritten wird.

Wer programmiert, wird programmiert

Bekanntlich ist das Internet nicht die erste Kultur, die diese vermeintliche "Deformierung" des Gehirns anrichtet. Schon damals fürchtete der Philosoph Sokrates, von dem bekanntlich nichts Schriftliches übermittelt ist, dass das Gedächtnis künftig lückenhafter würde und die Menschen daher immer vergesslicher würden, sollten sie ihre Gedanken veräußerlichen und sich zunehmend auf das geschriebene Wort verlassen.

Spätestens seit dieser Zeit, dem Übergang von der Sprache zur Schrift, kam es regelmäßig, wenn ein neues Medium, ein neuer Stil oder eine neue Mode die Menschen ereilte, zu neuen Abgesängen auf die Kultur. Man muss aber weder Marshall McLuhan, dem Carr offenbar sehr viel verdankt, gelesen haben, noch Neil Postman, dem Carr insgeheim wohl nacheifert, noch die Anekdote um Nietzsches Schreibgerät kennen, oder sich schließlich gar dem Turing-Test aussetzen, um zu wissen, dass Medien- und Netztechnologien an unseren Gedanken mitschreiben, wir, indem wir den Befehlsketten der Computer und Programme folgen, selbst in gewisser Weise zu Rechen- und Schreibmaschinen werden.

So wie Nicolas Carr allerdings diese medienwissenschaftlichen "Binsenweisheiten" mit der Hirnforschung vermanscht, genauso könnte man sich darüber auslassen oder gar beschweren, dass Autofahren und Händewaschen, das Schachspiel und die Pille danach unsere unseren Denkapparat verändern. Natürlich ist das richtig. Doch kaum jemand käme auf die irrige Idee, für eine Abschaffung oder Einschränkung all dieser Kulturtechniken zu plädieren. Insofern mutet die Übertragung hirnpsychologischer Erkenntnisse auf unser Online-Dasein schon etwas bizarr an.

Filtern statt Heulen

Längst wissen wir doch, dass das Leiden am "information overload" zuallererst eine Frage der Filterung und des richtigen Gebrauchs ist. Niemand wird zum Twittern, Flickern oder Facebooken gezwungen. Niemand fordert, dass man ständig seine Mailbox checken, nichtssagende Botschaften versenden oder empfangen muss. Und niemand verlangt, dass man jeden Graswurzelblog abonnieren oder sich mit Videos, Spielen oder Onlinechats die Zeit totschlagen muss.

Kluge und intelligente Menschen lassen sich davon weder beeindrucken noch ablenken. Sie zeigen auch in diesen Dingen hinreichend Talent, Übersicht und Disziplin. Zu dieser Art von Spezies zählen, darf man zweifellos auch Mr. Carr.

Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin - und was macht mein Gehirn solange? Blessing, München. 384 Seiten, 19,95 Euro