Deutsche Überflieger

Dank seiner Fußballer in Südafrika schwimmt das Land auf Wolke sieben

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Ein "Massaker" sah Terra aus Brasilien an der Albiceleste begangen; von "Demütigung" sprachen die argentinische Clarin und die italienische Gazetta della Sport, und von "Vorführung" (L’Equipe), "Zerstörung" (Daily Mail) und gar "Vernichtung" (The Sun) all die anderen.

Die Wortwahl mag zwar insgesamt etwas übertrieben sein, so einseitig gut oder schlecht waren weder die Deutschen noch die Argentinier. Zumal es zehn Minuten vor und vor allem fünfzehn Minuten nach der Pause durchaus eine machtvolle Drangphase der Albiceleste gab, wo das deutsche Aufbauspiel dank des großen Drucks heftig stockte und die Elf, auch Schweinsteiger, die Bälle allzu schnell an den Gegner verlor.

Hätte etwa Messi mit seinem Schuss vom Torraumeck nicht Per Mertesackers Kopf, sondern von dort ins Tor getroffen, hätte das Spiel durchaus eine andere Wendung nehmen können. Doch das ist reine Hypothese, Spekulation und jetzt Schnee von gestern. Am Ende stand ein für Argentinien vernichtendes Ergebnis – auch weil man zum Schluss körperlich platt war und das Verteidigen eingestellt hatte.

Selbstbewusst ins Unglück

Im Übrigen sah man schon vom Anstoß weg das Unglück kommen, das bald über Argentinien und Maradona hereinbrechen würde. Viel zu langsam, zu statisch und zu behäbig ging das Team ins Spiel. Von der ersten Sekunde an schob man sich die Bälle nur zu, spielte gleich nach hinten und machte im Aufbau Fehler, während die deutsche Elf spritzig, frisch und mental voll auf der Höhe wirkte und das dann auch mit etwas Glück und durch schläfrige Argentinier begünstigt eiskalt ausnutzte.

Warum Argentiniens Team so lethargisch wirkte, so wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange, wird ein ewiges Geheimnis bleiben. Waren es doch die gezielten Sticheleien, die Maradonas Team nervös und verunsichert hatten ( Extrem emotional aufgeladen)? Glauben konnte man das eigentlich nicht. Noch eine Stunde vor dem Spiel schritt Dieguito stolz und voller Selbstbewusstsein über den Platz und gab, entgegen all seiner Gewohnheit, noch einem heimischen Sender ein Interview auf dem Rasen.

Doch nach dem Führungstreffer war jedenfalls klar, was kommen würde. Argentinien würde, wenn es den Schock verdaut hat, angreifen müssen, während die Deutschen jetzt Löws Lieblingstaktik umsetzen und auf überfallartig vorgetragene Konter warten würden.

Doch bei all ihren Angriffsversuchen sah man, dass da keine echte Mannschaft auf dem Platz stand. Da war nicht nur viel zu wenig Laufbereitschaft im Spiel und man stand ständig immer viel zu weit vom Gegner weg, sondern da lief und kämpfte auch jeder nur für sich. Am Beispiel des bisweilen wild und ungestüm rackernden Tevez erkannte man, dass sie nicht miteinander spielten und auch keine richtige Taktik und Strategie an der Hand hatten.

Deutlich wurde aber auch, dass es im modernen Fußball heute wohl doch nicht mehr genügt, als Trainer reiner Motivator zu sein, der sein Charisma auf eine Mannschaft überträgt. Bei Franz Beckenbauer mag das: "Jetzt geht’s naus und spuilts" genügt haben, aber anno 2010? Verteidigen und das Spiel des Gegners stören oder gar "zerstören" kann heute jedes taktisch gut geschulte und eingestellte Team. Das hat man gestern Abend auch an Paraquay gesehen, die den Spaniern das Leben bis zum Schluss schwer gemacht haben.

Härtester Moment für Maradonna

Für Maradona dürfte gestern Nachmittag jedoch eine Welt zusammengebrochen sein. Er wollte ja nach dem anvisierten Titelgewinn nicht nur nackt um den Obelisken laufen, er hätte, um den Pokal in die Höhe strecken zu dürfen, auch bekanntermaßen einen seiner Arme dafür gegeben. Mithin sprach er danach auch in der Presskonferenz von seiner schlimmsten Niederlage, "vom härtesten Moment" in seinem eh von vielen Tiefs geprägten Leben.

Und wer ihn während des Spiels am Spielfeldrand hat leiden sehen, wie Minute um Minute jegliche Energie aus seinem Körper wich, die er vorher noch ausgestrahlt hatte, kann ihm das nachfühlen. Bisweilen hatte man das Gefühl, dass er am liebsten selbst auf den Platz gestürmt wäre, um das Blatt zu wenden und es sowohl den Deutschen als auch den Seinen zu zeigen, wie es geht.

Doch stattdessen stand er fassungs- und ratlos da, immer wieder sich an seinem Rosenkranz festhaltend, den er mit seinen Fingern unruhig zuckend ständig vor- und zurückbewegte. Auch da konnte man sehen, dass er keinen Plan B in der Tasche hatte und es offensichtlich doch kein Trainerteam gab, das im Hintergrund agierte und die Fäden zog, den Mut und die Verve hatte, der "Hand Gottes" bei Gelegenheit in die Parade zu fahren oder ihm die richtigen Dinge einzuflüstern.

Beispielsweise war nicht einzusehen, warum er Messi, der im Spiel der Katalanen meist über rechts kommt, zentral spielen ließ, statt ihn über diese hinlänglich bekannte deutsche "Achillesferse" anstürmen zu lassen. Und es war auch nicht nachzuvollziehen, warum er den Strategen Juan Sebastían Véron in der Zentrale und Walter Samuel, die erklärte "Mauer", nicht in der Abwehr hat agieren lassen.

Strahlende Kanzlerin

Die Deutschen wird all das nicht mehr interessieren. Sie sind nicht nur die Überflieger der WM, sie schweben jetzt auch auf Wolke sieben, einschließlich der Kanzlerin, die man, als ob man im Staatsfernsehen wäre, fünf- bis sechsmal einblendete, vor allem dann, als sie die vier Treffer bejubelte und darum mal nicht ihre Lippen nach unten zog.

Ob dieser Sieg der deutschen Mannschaft auch ein großer Sieg für die Kanzlerin Dr. Angela Merkel ist, wie ein Poster "Berliner Freiheit" im Forum von Welt Online nach dem Spiel mutmaßte ( Der härteste Moment meines Lebens), muss aber bezweifelt werden.

An der Merkel-Dämmerung, die längst eingesetzt hat, wird auch ein deutscher Weltmeistertitel nichts ändern. Zu zerstritten ist die Regierung, zu viele kompetente "Mitspieler" hat sie aus der Partei "weggebissen" und reine Jasager um sich versammelt, und zu entscheidungsschwach und konzeptlos füllt sie ihre Rolle als Leaderin aus. Auch eine Mannschaft braucht mehr als bloßen Teamspirit, sie braucht auch einen Anführer, einen der den Takt und den Rhythmus vorgibt und den Laden auch zusammenhält.

Nicht abheben

Und das deutsche Team und all die Fans, die jetzt noch mehr schwarzrotgoldene Fähnchen sich ans Auto oder Revers heften werden? Auch sie sollten sich nicht täuschen, sondern die Lage nüchtern beurteilen. Noch ist nichts gewonnen.

Sollte es tatsächlich der Mannschaft gelingen, den Weltmeistertitel zu erringen, ist das, vorsichtig gesprochen, nicht mehr als eine Momentaufnahme. An den Problemen des Landes, der schleichenden Überalterung, der Schuldenfalle oder der mangelnde Neigung zu echten Reformen in den Sozialsystemen wird das wenig ändern.

Zu verkrustet, zu satt und viel zu unbeweglich sind das Land und seine Bewohner, das von den einzelnen Interessengruppen in die Mangel genommen wird. Von Teamgeist ist da jedenfalls nichts zu spüren, wenn wieder mal Sparvorschläge die Runde machen. Jede Mannschaft ist und bleibt immer ein fragiles und höchst sensibles Gebilde.

Das gilt im Übrigen auch für die deutschen Überflieger. Ein kurzer Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt das recht deutlich. Schon vier Jahre nach dem "Wunder von Bern" scheiterte das Herberger-Team in der "Schlacht von Göteborg" am Gastgeber Schweden im Halbfinale, um danach auch noch das Spiel um Platz drei gegen das französische Wunderteam um den Spieler Just Fontaine haushoch zu verlieren.

Vier Jahre später, in Chile, scheiterte man dann bereits im Viertelfinale (damals gab es noch kein Achtelfinale) an Jugoslawien. Erst 1966 in England, über zwölf Jahre nach dem ersten, Titelgewinn fand man wieder zurück zu alter Stärke und verlor im Finale nur aufgrund eines Treffers, der keiner war.

Anfang der Siebziger begann dann die große Zeit des deutschen Teams. Noch immer wird in Rückblicken an die denkwürdigen Schlachten in Mexiko gegen England und Italien im viertel- und Halbfinale erinnert, oder an den zweiten WM-Titel, den man bei der Heim-WM gegen ein spielerisch wesentlich besseres Team der Holländer erringen konnte.

Schimpf und Schande

Doch bereits vier Jahre später in Argentinien kam es zur "Schande von Cordoba", als man dem Team der Österreicher unterlag und damit eine der schwärzesten Stunden des deutschen Fußballs schrieb. Und wieder vier Jahre später kam es in Gijón zum sogenannten "Nichtangriffspakt" mit dem Nachbarn, wodurch man dann Algerien aus dem Wettbewerb warf. Zu Recht kam danach und in den folgenden Jahren das böse Wort von den "deutschen Panzern" in Umlauf.

Und auch nach dem dritten Titelgewinn in Italien, als sich Franz Beckenbauer in einem Anfall von Über- und Hochmut sich zu der großmäuligen Aussage hinreißen ließ, nach der deutschen Einigung werde sich die Welt wohl auf eine lange Herrschaft der Deutschen einstellen müssen, ging der Schuss nach hinten los.

Im Anschluss daran sprach man weniger von den "Panzern", sondern von den "Rumpelfüßlern", die allenfalls kämpfen und die Gegner "umgrätschen", aber nicht über fünf Meter den Ball gepflegt zum nächsten Mitspieler befördern können.

Es musste erst ein ins "amerikanische Exil" abgewanderter Ex-Nationalspieler kommen, der mit kalifornischer Unbekümmertheit Widerstände im Verband beseitigte, dort alte Bärte abschnitt, dabei unbeirrt und starrsinnig Fenster öffnete und in der Folge die stickige und abgestanden wirkende Luft nach draußen ließ.

Von dieser "Lüftung" und diesem "Lifting" zehrt das Team noch heute, auch wenn derjenige, der das initiierte, längst von Bord gegangen ist und sich bei RTL als näselnder Ko-Kommentator verdingen muss.

Daher sollte man, obwohl aus dem Projekt dank des Trainers Jogi Löw (und, nicht zu vergessen, Matthias Sammer, der im Jugendbereich klug die Fäden zieht) ein Konzept geworden ist, jetzt nicht abheben.

Auch wenn die Spanier bislang im Turnier noch nicht so recht zu überzeugen wussten, es wirkt insgesamt, ob der vielen Spiele, die vor allem den Führungsspielern in den Knochen stecken, etwas überspielt, ausgebrannt und jedenfalls nicht frisch, sind sie doch im Gegensatz zu der Albiceleste ein echtes Team, das miteinander agiert. Und mit Holland wartet eventuell im Finale ein "Erzfeind", dessen physische Stärke erst noch überwunden werden muss.

Wie auch immer die Dinge sich nach dem 11. Juli, dem Tag des Finales, sich richten werden, die Zeit danach ist aller Erfahrung nach immer die schwerste. Schon den Sieg zu erringen, ist schwer. Noch schwerer ist es aber, ihn zu bestätigen. Man gucke sich dementsprechend nur die WM-Geschichte der jeweiligen Nationalelf an. Oder man frage diesbezüglich mal bei Roger Federer oder Rafael Nadal nach.