Warum eigentlich Christian Wulff?

Ein ganz persönlicher Kommentar wider den Mehrheitstrend

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Christian Wulff hat politische Karriere gemacht, aber ein wirklich hochkarätiger Politprofi ist er nicht. Gerhard Schröder oder Joschka Fischer hätten in einer vergleichbaren Situation wohl schlauer agiert als er (die beiden stecken aber nicht in Wulffs Haut und haben obendrein für ihr persönliches Wohlergehen längst andere Betätigungsfelder gefunden als die Politik).

Dieser Bundespräsident ist einfach zu ungeschickt. Auch deshalb habe ich mich persönlich dafür entschieden, in der "Causa Christian Wulff" einstweilen Fragen wider den Mehrheitstrend zu stellen. Mancher Kommentator aus liberalen oder linken Gefilden wird vielleicht seine Voreiligkeit von heute bereuen müssen, wenn wir morgen - passend zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen - einen Inhaber des machtlosen "höchsten Staatsamtes" bekommen, der rechts von Wulff steht.

Die "ganze Wahrheit"?

Meine erste Frage betrifft die so genannte "ganze Wahrheit", von der man dieser Tage in vielen Unkenrufen munkelt, dass es sie doch geben muss und dass wohl nur Wulff sie weiß und dass sie vielleicht nie ans Tageslicht kommt. Denkbar ist es ja, dass Christian Wulff gegen Gesetze, steuerrechtliche Bestimmungen oder Amtspflichten verstoßen hat. Das kann man nie wissen. Nur liegt dergleichen bislang eben nicht auf dem Tisch, obwohl doch viele Leute dafür bezahlt werden, etwas in dieser Art auf den Tisch zu legen.

Zu widerlegen ist somit zunächst die Version des Bundespräsidenten, nach der es persönliche und z.T. langjährige Freunde waren, die ihn zu kostenlosen Urlaubserholungen eingeladen und ihm uneigennützig einen günstigen Kredit gewährt haben. Falls diese Version stimmt und also auch keine politischen Gegenleistungen erbracht worden sind, hat Christian Wulff mit seinen Kommentierungen im Fernsehen Recht. Wenn ich persönlich reiche Freunde hätte, was allerdings nicht der Fall ist, würde ich mich auch zu schönen Tagen an der Sonne einladen lassen (ohne Obolus in die Kaffeekasse des Hauses) und bei Engpässen, die ich eigentlich ständig habe, zu günstigen Konditionen Geld leihen. Und beides würde ich - als stadtteilbekannter Sozialist und Moralist - auf Anfrage hin auch ohne jede Scham zugeben. Und ich finde ganz nach Spießermanier, dass der Bundespräsident die gleichen Rechte haben sollte wie ich als kleiner Bürger.

Politisch stellt sich an dieser Stelle die Frage nach Relationen und Verhältnismäßigkeiten. Wie reich ist denn der Mann, der auf den umstrittenen Kredit offenbar angewiesen war? Wie hoch genau sind die Einsparungen, die sich aus der Beziehung zu einem finanzstarken Ehepaar ergeben? Hat schließlich die Bank Christian Wulff anders behandelt als Bürger mit vergleichbaren Sicherheiten?

Falls (!) am Ende beim Themenkreis "finanzielle Vorteilnahme" nicht mehr herauskommt als das, was zur Stunde in den Skandal-Chroniken einschlägiger Medien steht, sollten sich nachdenkliche Zeitgenossen die Frage stellen, was denn der eigentliche Hintergrund der Skandalwelle ist und wer sie unter welchen Beweggründen losgetreten hat. Wünschen würde man sich so oder so, die beteiligten wirkmächtigen Medien würden auch nur ein Drittel der in Wulff hineingesteckten Energien dazu verwenden, ihre Leser oder Zuschauer über Fakten der nationalen und globalen Reichtumsverteilung zu informieren. Dann hätten wir ein gesellschaftlich relevantes Thema.

Solidarität mit dem Springer-Konzern? Ja und Nein!

Eigentlich sind die Geldgeschichten aber gar nicht mehr das Thema, eine Entwicklung, an der der Bundespräsident zweifellos den größten Anteil hat. Während ich diese Zeilen schreibe, verkündet die BILD-Zeitung online, dass sie Christian Wulff um das Einverständnis gebeten hat, seine Mailbox-Nachricht an Chefredakteur Kai Diekmann veröffentlichen zu dürfen. Guter Schachzug! Wir haben eine neue Spannungsstufe erreicht. Die Mailbox-Nachricht, deren Inhalt auch ohne Erlaubnis irgendwann im Wortlaut öffentlich wird, dürfte wohl kaum für den Angeklagten sprechen. Um es vorab klar zustellen: Nötigung von Redaktionen und Redakteuren, das geht gar nicht, auch wenn man mit den betreffenden Medienmachern zu anderen Zeiten vielleicht mal persönlichere Kontakte gepflegt hat.

Aber menschlich und politisch betrachtet hat die Sache auch noch eine andere Seite. Heute morgen habe ich mir einen Artikel der "Welt" vom 26. Juni 2011 über Wulffs "heimliche Schwester" zu Gemüte geführt. Gleich drei Künstler haben an diesem hochgeistigen Produkt mitgewirkt. Das Ergebnis finde ich persönlich widerlich. Jeder Kommentator und jeder Mensch mit oder ohne politische Ambitionen sollte sich die Frage stellen, mit welchen Gefühlen er bei einem vergleichbaren Artikel über die ungeraden Linien seiner eigenen Biographie bzw. Familiengeschichte reagieren würde. Ich jedenfalls könnte mir bei aller Friedfertigkeit gut vorstellen, als Politiker gegenüber Medienleuten, die in politisch irrelevanten Dunkelecken meiner persönlichen Lebensschule herumschnüffeln, ein justiziables A-Wort zum Besten zu geben. Es mangelt in unserer Medienlandschaft an substantiellen politischen Diskursen. Der besagte Welt-Artikel und die Wulff-Titelseiten der letzten Wochen sind ein Teil des Problems.

Der Springer-Konzern hat die Macht, ihm missliebige Politiker zu stürzen oder ihm genehme Politiker am Ruder zu halten, sofern das eben noch geht (was in der Causa Guttenberg zuletzt nicht der Fall war). An den Schlagzeilen von BILD und Spiegel entscheiden sich Meinungsumfragen. Das ist nichts Neues. Ganz gleich, wie die Geschichte mit dem Bundespräsidenten diesmal ausgeht, die Fragen nach einem freien und kritischen Diskurs und nach den maßgeblichen Themenmachern in unserem Land sind von anderer Art als der BILD-Drohanruf eines Bundespräsidenten mit zu schwachen Nerven.

Übrigens, irgendetwas richtigmachen kann Christian Wulff sowie nicht mehr und hat er vielleicht in der aktuellen Sache auch nie gekonnt. Mit Verletzlichkeit und Demut kommt man zwangsläufig in die Opferlammrolle. Die löst aber, auch wenn sie "echt" ist, bei allen Aggressionen aus, die an den Fetisch "Unverwundbarkeit" glauben. Wer andererseits schweigt oder selbstbewusst auftrumpft, kommt am Vorwurf, ein arroganter Mächtiger zu sein, nicht vorbei - auch dann nicht, wenn es die mutmaßliche bzw. gefühlte "ganze Wahrheit" vielleicht gar nicht gibt.

Das deutsche Parteiendrama

Christian Wulff hat schon in jungen Jahren als Bundessprecher der "Schüler Union", in der auch ich einst meine schwarzen Jugendsünden begangen habe, einen parteipolitischen Weg eingeschlagen. Die Milieus, aus denen die beiden größten Parteien der Republik traditionell ihren Nachwuchs rekrutierten, gibt es nicht mehr. Gerhard Schröder und Angela Merkel haben daraus - jeweils unter dem gleichen neoliberalen Vorzeichen - Konsequenzen gezogen und sich für Identitätslosigkeit entschieden. "Thilo Sarrazin (SPD) for President" oder vielleicht irgendein Intellektueller aus dem Bekanntenkreis des rechtskatholischen Spiegel-Spaßmachers Matthias Matussek - solch gruselige Szenarien sind am Ende dieser ganzen Entwicklung vielleicht gar nicht auszuschließen.

Falls Christian Wulff keine Gesetze gebrochen hat und außerdem trotz seiner Ausfälle bei BILD im Amt verbleibt, sollten wir seine politischen Aussagen zu gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fragen mit kritischer Wachsamkeit beobachten. In jedem Fall bleibt es eine der zentralsten Fragen, ob eine Immunität von politischen Funktionsträgern gegenüber den Verführungen und annehmlichen Begleiterscheinungen von Macht zumindest denkbar ist.

Welche biographischen Rahmenbedingungen begünstigen das frühe Einsetzen von politischen Karrieren? Gibt es Chancen, ursprüngliche Verwundungen in fruchtbare politische Motive zu verwandeln? Welche Persönlichkeiten können sich im real existierenden Politikbetrieb der Parteien vorzugsweise durchsetzen, und welche Alternativen wären gerade für solche Menschen, die Macht nicht attraktiv finden, einladend? Wer - außer dem Spiegel im Badezimmer - könnte einem helfen, ein wachsames Auge auf alle Hässlichkeiten im Bannkreis der Macht zu werfen?

Außerhalb der Zirkel von Netzwerkern und postmodernen Polit-Entertainern in allen Lagern, die solche Überlegungen nicht einmal mehr verstehen, sind das Fragen, denen Konservative wie Linke gleichermaßen nachgehen sollten. Ein vogelfreier Bundespräsident hätte vielleicht besonders gute Möglichkeiten, sich hier einzubringen. Allerdings bräuchte er in diesem Fall unbedingt auch arme Freunde, die ihm weder sonnige Urlaubstage noch günstige Kredite bescheren können.