Ein Hauch von Nelkenrevolution

In Portugal wird der Ruf nach Sturz der skandalgeschüttelten konservativen Regierung lauter

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Portugal begeht heute feierlich und kämpferisch den 39. Jahrestag der Nelkenrevolution. Nie war die Stimmung am "Tag der Freiheit" seither so rebellisch. Eine Mehrheit will die konservative Regierung unter Pedro Passos Coelho "zum Teufel jagen". Das Revolutionslied "Grândola, Vila Morena" erlebt eine Renaissance, dessen Ausstrahlung im Radio am 25. April 1974 um 0:30 das Startsignal für den von linken Militärs angeführten friedlichen Sturz der Diktatur gab. Überall wird wieder "Grândola, braungebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit" besungen, in der "das Volk bestimmt".

Die angezählte Regierung stolpert derweil von Skandal zu Skandal. Sogar das Verfassungsgericht wirft ihr längst ein "Suchtverhalten" bei Verfassungsverstößen vor. Die große sozialistische Oppositionspartei trägt ihre Sparpolitik nicht mehr mit und hat ihr das Misstrauen ausgesprochen. Mario Soares, einst Ministerpräsident und graue Eminenz der Partei, gab zu, auch mit Regierungsvertretern im Gespräch zu sein, "um diese Regierung zu stürzen". Erst kürzlich hatte er vor einer "sozialen Explosion" gewarnt, weil seinen Landsleuten der Kragen platzt.

Die Lage für Coelho und seine Sozialdemokratische Partei (PSD), die real aber konservativ ist, und für ihren rechtsliberalen Partner CDS-PP hat sich weiter zugespitzt. "Hochspekulative" Geschäfte wurden in staatlichen Wasser-, Öl- und Verkehrsbetriebe bekannt. Sie gingen komplizierte Deckungsverträge mit ausländischen und einheimischen Banken ein, die dem Staat Verluste von mindestens drei Milliarden Euro bescheren dürften, wovor der Rechnungshof aber längst gewarnt hatte.

Die Summe ist viel höher als die, die das Verfassungsgerichturteil kürzlich im Haushalt gerissen hat, weil darin die Lasten nicht gerecht verteilt waren. Sogar Empfänger von Kranken- und Arbeitslosengeld sollten geschröpft und erneut Renten und Löhne im Staatsdienst gekürzt werden, obwohl das Gericht derlei schon 2011 annulliert hatte. Nun muss noch stärker gespart werden, obwohl es in Behörden längst kein Klopapier mehr gibt und in Gerichten Papier fehlt, um Urteile kopieren zu können. Das Land werde "lahmgelegt", meint auch Coelhos Parteifreundin Manuela Ferreira Leite, Spitzenkandidatin der PSD in der Hauptstadt, die einen "Richtungswechsel" forderte.

Es floriert nur noch die Arbeitslosigkeit

Wegen Skandalen musste die Regierung in nur zehn Tagen zwei Mal umgebildet werden, erneut wurden nun drei Staatssekretäre entlassen. Zuvor trat Superminister Miguel Relvas zurück, der 2007 in nur einem Jahr einen Politologieabschluss im dritten Anlauf erlangt hatte. Von 36 Prüfungen legte er nur vier ab. Fast ein Jahr ist das bekannt, doch erst jetzt zog Coelho Konsequenzen.

Sein harter Sparkurs geht auch nicht auf. Die europäische Statistikbehörde hat nun mitgeteilt, dass das Haushaltsdefizit wie in keinem anderen Land 2012 wieder um zwei Prozentpunkte auf 6,4 Prozent gestiegen ist. Das arme Land am westlichen Rand Europas durchlebt die tiefste Rezession seit 1974. Es floriert nur noch die Arbeitslosigkeit. Der Schuldenstand ist auf gefährliche 124 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen.

Auch der Präsident der Wirtschaftskommission Luis Campos Ferreira (PSD) spricht von der libraremos troika/0003_201304G21P6991.htm "schwierigsten Situation", die das Land jemals durchgemacht hat. "Wir müssen im Jahr acht Milliarden Euro an Zinsen bezahlen, das ist der größte Posten im Haushalt." Das Geld wird auch an Gesundheit und an Bildung gespart, womit dem Land die Zukunft verbaut wird, kritisiert die Opposition. In Scharen verlassen gut ausgebildete junge Menschen wegen einer Jugendarbeitslosigkeit von fast 40 Prozent das Land. "Ich glaube, dass man in zwei Jahren positive Effekte feststellen wird", traut sich Ferreira nicht mehr, der Bevölkerung Hoffnung auf baldige Besserung zu machen.

Doch dann wird diese Regierung nicht mehr regieren, ist eine große Mehrheit im Land überzeugt. Etwas wird passieren, längst gärt es auch im Militär stark. Auch Offiziers- und Soldatenvereinigungen fordern den Sturz der Regierung. Sie sahen sich bisher nicht zu einem neuen friedlichen Putsch berufen, weil man es nicht mit mehr mit einer Diktatur zu tun habe. Da die Regierung aber immer klarer gegen die Verfassung verstößt, ändert sich auch die Stimmung in den Streitkräften.

Auch die Mittelschicht sieht keine Zukunft mehr. "Hier bricht alles zusammen", resümiert Artur Sosa in einer langen Schlange vor dem Arbeitsamt in Lissabon. Hoffnungen auf einen Job, macht sich der 49-jährige längst nicht mehr. "Was soll ich erwarten, wenn nicht mal Studierte einen Job finden." Auch den Gewerkschaften reicht es. Der Chef des großen Gewerkschaftsverbands Arménio Carlos erklärte, dass der "Hunger zurück ist", was vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen sei. Der Revolutionstag und der 1. Mai werden nicht bloß "Gedenktage" sein. Es stünden "entscheidende Momente" an, an denen der Regierung und der EU-Kommission von der Mehrheit klargemacht werde: "Es reicht."