Über moralische Fallhöhen und Neugeburten

Bei Moralisten und Gutmenschen mögen die Maßstäbe andere sein, nach einer gewissen Karenzzeit tauchen sie trotzdem gerne an anderer Stelle und in anderer Position wieder auf

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Nach dem freiwillig-erzwungenen Rücktritt der EKD-Vorsitzenden und Hannoveranischen Bischöfin Margot Käßmann sind im Nachhinein wieder mal öffentlich Legenden und Mythen gestreut und gestrickt worden. Allen und meilenweit voran wieder mal unsere Bundesoma, Frau Alice Schwarzer.

Durchfeminisiert

Die Ratspräsidentin sei nur deswegen aus dem Amt geschieden, so die Altvordere, weil sie eine Frau ist. Wäre ein Mann volltrunken bei Rot über die Ampel gefahren und dabei von der Polizei erwischt worden, wäre das in der Öffentlichkeit als lässliches Vergehen oder Sünde abgetan worden.

Weit gefehlt! - möchte man da Frau Schwarzer zurufen. Warum sollte eine Öffentlichkeit, die mittlerweile in weiten Teilen als "durchfeminisiert" gilt, ausgerechnet Frauen für derartiges Fehlverhalten abstrafen und Männer nicht?

Zum einen hat Frau Käßmann niemand zum Rücktritt gezwungen. Zum anderen war die moralische Fallhöhe, die die Ratspräsidentin selbstredend aufgebaut hat, sehr hoch. Zu hoch für sie. Das hat sie schnell begriffen, und das war für den Beobachter auch leicht zu erkennen.

Rigides Gutmenschentum

Gewiss war der öffentliche Druck enorm. Häme, Spott und Hohn waren da. Vor allem in den Kommentaren der Medien, wo man sie mit dem protestantischen "Saufteufel" verglich und ihr die Lektüre des Evangelisten Lukas über die Versuchungen des Teufels wärmstens ans Herz legte.

Doch darüber sollte sich niemand wundern. Wer sich öffentlich als Moralapostel und Gutmensch geriert oder positioniert; wer lautstark und vollmundig dem moralischen Rigorismus frönt und obendrein noch ein solches Image von sich in der Öffentlichkeit verbreitet und aufbaut, bekommt ein Problem, wenn öffentliches Bild und Wirklichkeit in einen eklatanten Widerspruch geraten und er/sie seinen/ihren selbst gesetzten oder öffentlich propagierten moralischen Regeln und Prinzipien nicht entsprechen kann.

Prominente Ahnenreihe

Das musste Herr Gysi leidvoll in Berlin erfahren, als er Bonusmeilen falsch abrechnete; das musste auch Frau Wagenknecht erfahren, als sie beim Hummeressen ertappt wurde und die Bilder davon löschen lassen wollte.

Und das mussten auch Herr Özdemir und Herr Friedman erfahren, als der eine sich von einer PR-Agentur eine Privatkredit geben ließ und das Vielfliegerprivileg von Abgeordneten im Sinne seines Parteikollege Rezzo Schlauch interpretierte und der andere sich mit Koks verschnupfter Nase bei ukrainischen Huren vergnügte.

In allen diesen ähnlich gelagerten Fällen klafft und klaffte ein Riesenloch zwischen dem, was öffentlich gepredigt und was privat gemacht wird.

In Sünde leben

Vermutlich wäre es ihrem Vorgänger Bischof Huber auch nicht anders ergangen, wenn ihm in seiner Amtszeit etwas Vergleichbares passiert wäre. Auch er hat sich in Talkshows und öffentlichen Erklärungen moralisch immer höchst weit aus dem Fenster gelehnt. Mit Frau- und Mannsein hat das sehr wenig zu tun. Wer mit dieser Differenz operiert und meint, dass an Frauen immer höhere Maßstäbe angelegt würden als an Männer, beweist damit nicht nur einen mehr als eingeschränkten Blickwinkel, sondern hat auch nicht begriffen, worum es hier geht.

Gern verweisen wir an dieser Stelle auf andere öffentliche Personen, auf Franz Josef Strauss etwa, den jeder Völlerei nicht abgeneigten ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten, oder, um nicht der politischen Parteinahme bezichtigt zu werden, auf Joschka Fischer, den Steine werfenden Rebellen im Ministeramt. Auch sie mussten sich des Öfteren wegen privater Fehltritte des öffentlichen Drucks erwehren.

Doch anders als die oben angeführten Personen, war deren Image immer schon mit schwarzen Tupfern durchsetzt. Von ihnen erwartete man sogar, dass sie sich gelegentlich daneben benahmen und "in Sünde" lebten. Hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit hatten sie auch kein "Image" oder gar "Legitimationsproblem". Ein solches bekommt nur, wer öffentlich immer Wasser predigt, aber privat Wein trinkt. Darum sind Häme und Spott der Öffentlichkeit in solchen Fällen auch immer besonders groß.

Voller Trugbilder

Frau Käßmanns Problem war, dass sie immer, wenn sie das Wort ergriff, den moralischen Zeigefinger erhoben und ihr öffentliches Erscheinungsbild eng mit diesem verbunden hat. Ihr öffentliches Gut war ja nicht nur der hohe moralische Anspruch, den sie reklamiert oder an sich angelegt hat, sondern dass sie den auch von anderen Zeitgenossen eingefordert hat. Und genau diesen Kredit, ihre Glaubwürdigkeit, hat sie durch ihre Trunkenheitsfahrt nachhaltig ramponiert und dadurch verspielt.

Hätte die Bischöfin in nächster Zeit wieder mal moralisch über die deutschen Krieger am Hindukusch gewettert oder sich bei Plasberg, Will oder Illner über die soziale Kälte in diesem Land mokiert, hätte der eine oder andere möglicherweise eine Weinflasche in die Höhe gehalten oder ihr ein Weizenglas entgegengehalten. Weil sie das gewusst und befürchtet hat, hat sie all ihre Ämter niedergelegt.

Medial gleich

Mit Zynismus hat all das nichts zu tun. Und mit dem Unterschied von Mann und Frau ebenso wenig. Geht es um öffentliche Aufmerksamkeit, um Gutmenschentum und/oder expressives Selbstdarstellertum, unterscheiden sich Männer und Frauen nicht im Geringsten. Hinzu kommt, dass man Minister- und Bischofsamt sehr wohl vergleichen kann, vorausgesetzt, man versteht Ämter und Geschlecht politisch.

Und genau so hat Frau Käßmann auch ihr Amt verstanden, wenn sie in öffentlich-rechtlichen Sendern aufgetreten ist, ihre Scheidung und Krankheit öffentlich gemacht oder von der Kanzel herab pazifistische Parolen verbreitet hat – ungeachtet derer, die in Afghanistan Dienst tun und ihr Leben riskieren.

So ist das mediale Geschäft und das weiß auch jeder, der sich dermaßen in die Öffentlichkeit begibt. Dafür wird man auch, von den gelegentlichen "Schlägen", die man da abbekommt, mal abgesehen, gut entlohnt, materiell wie immateriell.

Gewisse Karenzzeit

Im Übrigen wird die ehemalige Bischöfin bald an anderer herausgehobener Stelle wieder auftauchen, als Ministerin, Abgeordnete oder Repräsentantin einer sozialen Einrichtung. Auch cem-oezdemir-das-comeback-des-gruenen-schwaben/409431.html: Cem Özdemir, Michel Friedman oder sogar Otto Wiesheu, einst bayerischer Wirtschaftsminister, der volltrunken am Steuer einen Unfall mit Todesfolge verursacht hat, sind nach einer gewissen Auszeit wieder im Geschäft.

Die Krokodilstränen, die von bestimmter Seite in den Medien vergossen werden, von Synodalen, Politikern und Kollegen, werden sehr bald wieder getrocknet sein. Die Pastorin gilt, wenn man Berichten trauen darf, nicht nur als besonders ehrgeizig, sondern auch als sehr egomanisch. In ihrer Kanzlei soll, so erzählen Mitarbeiter, eine "Ego-Wand" gegeben haben, an der die Bischöfin jüngste Erklärungen, Berichte und Kommentare über sie penibel gesammelt und für alle gut sichtbar immer ausgehängt hat.

Schon lesen und hören wir, dass die Grünen ihr einen verantwortungsvollen Posten in der Partei angeboten haben. Nichts anderes haben wir erwartet. Darum sollte man sich darüber auch nicht wundern. An der Seite von Frau Claudia Roth wird die Moralapostolin auf alle Fälle eine sehr gute Figur abgeben.