Der Zorn der Leistungsträger wird abgesagt

Die Regierung stellt Programm und Personal vor und verkündet dabei stolz und gewichtig: Alles wie gehabt, nichts Neues unter der Sonne.

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Worüber ist nicht vor und noch nach der Wahl spekuliert worden: Mit Schwarzgelb werde der "soziale Kahlschlag" beginnen und die "soziale Kälte" in die Gesellschaft einziehen. Die Armen des Landes würden finanziell gerupft und den Reichen das Geld in den Rachen geworfen. Spätestens seit heute Vormittag ist klar: Nichts von dem, was vorsorglich schon mal schwarzmalerisch an die Wand gepinselt worden ist, wird eintreffen. Die professionellen Mahner, Warner und Bedenkenträger in Kirchen, Gewerkschaften und zivilbewegten Kreisen haben sich getäuscht. Genau das Gegenteil wird der Fall sein.

Jedem Schäfchen sein Pläsierchen

Auch die schwarzgelbe Koalition und Regierung werden ihre Versprechen halten und die seit den seligen Zeiten Kohls altbekannte Tradition der Verteilung von Wohltaten und Steuergeschenken an die Bürger fortsetzen. Es gibt Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, es wird der Familien- und Kinderfreibetrag erhöht und die eine oder andere Korrektur an Erbschafts- und Unternehmenssteuer angebracht; das Schonvermögen für Hartz IV Empfänger wird verdreifacht, und es wird Staatsknete für talentierte und leistungswillige Studenten und Studentinnen geben. Außerdem will man die Folgekosten des Abschwungs in der Gesundheits- und der Krankenversicherung übernehmen, damit Arbeit sich wieder lohnen und die Arbeitnehmer nicht die volle Lasten der Rezession schultern müssen. Besser hätte es eine schwarzrote oder eine rotgrüne Koalition vermutlich auch nicht hingekriegt.

Alles, was Konflikte mit irgendwelchen Lobbyisten oder Sozialverbänden heraufbeschworen, oder für verstärkte Unruhe und Protestgeschrei in der Öffentlichkeit gesorgt hätte, die Entrümpelung des Steuerdickichts, der Angriff einer echten Steuerreform, die diesen Namen auch verdient, die Reformierung der Sozialsysteme und des Gesundheitssystems hat man entweder in Absichtserklärungen verpackt, sie auf die lange Bank geschoben oder sich zu einer willkürlich zusammengeschusterten Kompromisshaltung gezwungen. Auch, weil in einem halben Jahr in Nordrhein-Westfalen schon wieder gewählt wird und die Regierung ihre Stimmenmehrheit im Bundesrat verteidigen muss.

Kanzlerin für alle und jeden

Eigentlich könnte diese Regierung durchregieren. Sie hat nicht nur die Stimmenmehrheit im Bundestag und Bundesrat. Auch die größte Oppositionspartei, die sich nach Aussagen ihres künftigen Vorsitzenden in einem "katastrophalen Zustand" befindet, hat sich gerade selbst demontiert und für Jahre aus der Regierungsverantwortung abgemeldet. Doch schon am Wahlabend musste der Bürger und Wähler Schlimmes befürchten, als die Kanzlerin in der ihr eigenen humorlosen Art erklärte, sie wolle die "Kanzlerin aller Deutschen" sein, eine, die einer "Koalition der Mitte" vorsteht und in der sich niemand ausgeschlossen fühlen darf, der soziale Stütze Beziehende ebenso wie der Apotheker und Kreative von nebenan, der seinen Lebensunterhalt selbst, mit Laptop oder Handy verdient.

Politik und echte Führungsstärke, Mut oder Aufbruch sehen aber anders aus. Da heißt es dann auch die eine oder andere unliebsame Entscheidung zu treffen und der einen oder anderen Gruppe wehtun zu müssen. Bleibt alles beim Alten und wird nur mit neuem Koalitionspartner und Personal weitergemacht wie bisher, dann kann man sich die Wahl das nächste Mal auch sparen.

Doch was heißt im politischen Berlin heutzutage schon neu? Präsentiert werden Zombies wie Herr Schäuble, Herr Brüderle und, ja, auch Frau Leutheuser-Schnarrenberger, an deren kuriosen Namen wir uns wieder gewöhnen müssen, mithin altgediente, aus der Kohl-Ära bekannte Köpfe und Gesichter. Aber auch Überforderte oder Überflüssige wie Herr Jung oder Frau Schavan, die ihr Amt behalten oder einfach die Hausnummer wechseln. Oder auch Parteisoldaten wie Herr Ramsauer und Herr Niebel, die für treue Dienste endlich belohnt werden, die von ein paar Jungspunden und Aufsteigern wie den Herren zu Guttenberg und Rösler umgeben werden. Sie dürfen sich etliche Ecken und Kanten abschleifen, der eine am Hindukusch, wenn er den geordneten Rückzug der Truppen befehligen wird, der andere im zu erwartenden Guerillakrieg mit Ärzten, Arzneimittelfirmen, Krankenkassen und Sozialverbänden.

Es lebe die Meritokratie

Was all diese Leute im Einzelfall zum Ministeramt prädestiniert, wird dem Beobachter weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick klar. Was man weiß, ist, dass es bei der Besetzung der begehrten Ministerposten nicht immer um fachliche Eignung oder Durchsetzungsvermögen geht. Meist geht es um Proporz, darum, dass jeder Landesverband und Koalitionär entsprechend der Kraftverhältnisse im Kabinett vertreten sein muss; oder um Verdienste, also darum, jene zu belohnen, die in Jahre und in Nächte langer Zeit Gesetzesentwürfe geschrieben, sich bei stunden- und tagelanger Gremienarbeit den Hintern wund gesessen haben und der Bundeskanzlerin in all den Jahren treu zur Seite gestanden sind.

Wer zuletzt doch noch Zweifel hegte, ob er seine staatbürgerlichen Pflichten nicht doch ernster nehmen und zur Wahl hätte gehen sollen, wird sich nach der Vorstellung von Regierung und Programm in seiner Wahlverweigerung bestätigt fühlen ( Im Schatten der Stimmzettelverweigerer).

Es lohnt sich nicht, an die Urne zu gehen oder für die eine oder andere Partei zu werben. Für das Leben oder den Alltag ist es vollkommen unwichtig, wer da in Berlin gerade regiert oder sich die Köpfe heiß redet. Am "Sozialdemokratismus", den nun auch Peter Sloterdijk ( Plädoyer für die Freiheit) als herrschende Doktrin dieses Landes bezeichnet hat, wird sich wenig ändern.

Und die Verteilungsmentalität

Darum muss und wird das Wahlergebnis niemanden in Aufregung versetzen. Die schwarzgelbe Regierung wird dem linksalternativen Lager nicht "die Deutungsmacht klauen", wie die ehemalige taz-Chefin Bascha Mika oder der Dinosaurier des bundesdeutschen Popkulturalismus Diedrich Diederichsen unisono fürchten. Da können Peter Sloterdijk und Norbert Bolz noch so lautstark in der Zeitschrift Cicero gegen den "paternalistischen" oder den "modernen Steuerstaat" wettern, gegen den "demokratischen Despotismus", die "Tyrannei der Wohltaten" oder das "Vollzugsorgan" des "objektiven Sozialdemokratismus" und für mehr "Meinungsfreiheit" und "Selbstverantwortung" plädieren.

Grundlegend ändern wird sich an der "Verteilungsmentalität" nichts. Der Zorn mancher "Tüchtiger" mag groß sein und tief sitzen. Darum hat man vielleicht auch, wie mancher meint, FDP gewählt ( Der Möchtegernbürger). Die "Sozialdemokratie" ist vielleicht am Ende, aber nicht das "sozialdemokratische Projekt" insgesamt ( Ist das sozialdemokratische Projekt am Ende?). Es lebt besser denn je, auch und erst recht mit und wegen dieser neuen Regierung.

Den Aufstand der Leistungsträger wird es jedenfalls nicht geben. Sie werden bisweilen murren, ein ästhetischeres Politik- und Staatsgemälde anmahnen und die Langeweile und Mittelmäßigkeit der Berliner Republik beklagen, sich letztlich aber, wie die FAZ auch, mit dem "Sozialdemokratismus" und Frau Merkel und Co. abfinden. An die Art, wie Merkel die Probleme aussitzt oder laufen lässt, ihre diversen Blazer und ihre heruntergezogenen Mundwinkel, hat man sich mittlerweile ebenso gewöhnt wie an jene "Lethargie" und geistige Behäbigkeit, in die das Land mittlerweile versunken ist.