Bundestag will Rederecht einzelner Abgeordneter einschränken

Künftig sollen nur mehr die Fraktionen bestimmen dürfen, wer spricht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In den letzten fünfzehn Jahren geb es eine ganze Reihe von Mehrheitsbeschlüssen im Bundestag, die sich im nachhinein als grundgesetzwidrig erwiesen. Nun könnte bald eine weitere dazukommen: Im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung verständigten sich die Parteien nämlich darauf, das Rederecht einzelner Abgeordneter einzuschränken. Die soll der Bundestagspräsident künftig nur noch "im Benehmen mit der jeweiligen Fraktion" sprechen lassen. Die "Erklärung zur Abstimmung", auf die bislang jeder Abgeordnete ein Recht hat, soll darüber hinaus im Regelfall nur mehr schriftlich abgegeben werden dürfen.

Hintergrund ist eine Entwicklung, die sich bereits seit den späten 1980er Jahren abzeichnet: Während die Unterschiede zwischen den etablierten Parteien verschwimmen, nehmen die Meinungsverschiedenheit innerhalb der politischen Gruppierungen zu. Besonders deutlich wurde das in den Debatten um die Euro-Rettungsschirme, wo sich die Eliten von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen relativ einig waren und die Gegenstimmen vor allem von einzelnen FDP- und Unionsabgeordneten wie Frank Schäffler und Peter Gauweiler kamen.

Bundestagspräsident Norbert Lammert war deshalb von der informell vereinbarten Gepflogenheit abgewichen, die Redezeit nur nach Fraktionen aufzuteilen, und hatte auch der innerparteilichen Opposition Gelegenheit gegeben, ihre Standpunkte darzulegen. Das wurmte nicht nur die Führungskräfte der Koalitionsparteien, sondern auch die von Sozialdemokraten und Grünen. Denn auch dort will man am liebsten Geschlossenheit demonstrieren und kritische Stimmen bei als "alternativlos" dargestellten Entscheidungen möglichst von Kameras und Mikrofonen fernhalten.

Allerdings kennt das Grundgesetz keine Fraktionen, sondern nur Abgeordnete, die nicht "an Aufträge und Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Verfassungsrechtlich begibt sich die "Einheitspartei der Mitte" deshalb auf dünnes Eis. Kommt ein Abgeordneter auf die Idee, die neue Regelung dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, dann könnten sich die Karlsruher Richter auch einige andere eingeschliffene Bräuche wie den Fraktionszwang genauer ansehen – und möglicherweise neue Vorschriften einfordern, die das Recht einzelner Abgeordneter besser schützen.