"Der Gescheiterte ist der Gescheitere"

Bringen Niederlagen mehr Erkenntnisse als Siege? Der Historiker Reinhart Koselleck scheint davon überzeugt gewesen zu sein

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Sicherlich wird sich so mancher Fußballfan noch an den 26. Mai 1999 erinnern, an das Champions League Finale im Camp Nou in Barcelona. Derzeit ist es auf Sky Sport oder Sport1 in Endlosschleifen erneut zu bewundern. Damals, vor gut dreizehn Jahren, sah der FC Bayern München schon wie der sichere Sieger aus, als der Verein plötzlich durch zwei denkwürdige Tore, die die Spieler Teddy Sheringham und Ole Gunnar Solskjær in der ersten und dritten Minute der Nachspielzeit erzielten, aus allen Träumen gerissen wurde.

Kultur der Niederlage

Der Schock für die Kicker, aber auch für die Fans und den Verein insgesamt, saß tief. Vom spanischen Trauma ist seitdem die Rede. Und das irgendwie auch zu Recht. In dieser Dramatik und mit dieser Dramaturgie hatte man das auf diesem Niveau zuvor noch nicht erlebt. Trotz dieser beispiellos negativen Erfahrung rappelten sich die Spieler alsbald wieder auf. Sie erholten sich von diesem Erlebnis und gewannen zwei Jahre später im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion doch noch die begehrteste Trophäe, die es im europäischen Vereinsfußball zu erringen gibt.

Folgt man einer Einsicht Reinhart Kosellecks, dem vor sechs Jahren verstorbenen Bielefelder Historiker, dann kommt der Sieg des FC Bayern nach diesem derben Tiefschlag, den Anhänger, Verein und Spieler gegen Manchester United erleiden mussten, alles andere als überraschend. Ihm zufolge erweitern Niederlagen nicht nur den Erkenntnisgewinn, sie verbessern auch Wahrnehmung und Einsichten und lassen manche Dinge und Ereignisse schärfer und konturierter hervortreten.

Kurzfristig Erfolg

In einem Vortrag, den der Historiker Mitte der Achtziger in Bochum gehalten hat und dessen korrigierte Fassung die Zeitschrift für Ideengeschichte am Anfang dieses Jahres (Jg. 6, Heft 1, C.H. Beck Verlag 2012) in Ausschnitten abgedruckt und zum Thema gemacht hat, hat Koselleck diese Behauptung vertreten und dabei die ebenso bekannte wie gängige Ansicht in Frage gestellt, wonach die Geschichte und ihr Vokabular stets von den Siegern geschrieben würde.

Kurzfristig mag das vielleicht so sein, so der Geschichtsforscher des Jahrgangs 1923. Langfristig aber stammen die größeren Erkenntnisgewinne immer von den Besiegten. Neige der Sieger nämlich dazu, kurzfristig erzielte Erfolge auf Dauer auszulegen und zu irritationsfreien Teleologien umzudeuten, werde der Loser durch Niederlagen dazu gezwungen, sich darüber Gedanken zu machen, warum es nicht so funktioniert hat, wie er sich das in seinen Überlegungen vorgestellt hatte.

Politische Distanz

Gucke man sich nämlich diesbezüglich in der Geschichte um, dann hätten Historiker immer dann bessere diagnostische Fähigkeiten und scharfsinnigere Diagnosen entwickelt, wenn sie zuvor Opfer gewesen wären oder auf der Verliererseite gestanden hätten. Thukydides und Herodot beispielweise hätten dann ihre besten Geschichtserzählungen verfasst, nachdem sie aus ihrer Heimat verbannt oder vertrieben worden waren. Von da an hätten sie Orte und Schauplätze aufgesucht und Zeitzeugen befragt, um Wahrheiten herauszufinden. Zudem hätten sie angefangen, Aussagen von politischen Interessenslagen zu trennen und sie auf ihre objektive Richtigkeit hin zu überprüfen.

Ähnliches könne man über Polybios und Tacitus berichten. Auch ihnen seien die historiografischen Talente erst zugefallen, als sie an den Rand gedrängt und dadurch gezwungen wurden, eine "diachrone" und "politische Distanz" zur Politik und den Siegern einzunehmen. Erst durch diese Andersartigkeit und Fremdheit, die sie zu den Geschehnissen fortan besaßen, konnten sie jene "Brechungen" thematisieren, die durch "pure Identitätskontinuität nicht erreichbar gewesen" wäre.

Zu dieser Ahnengalerie prominenter Verlierer zählt Koselleck auch Niccolò Machiavelli und Karl Marx. Auch sie hätten große persönliche wie politische Niederlagen zu verkraften und zu verarbeiten gehabt. Zwar hätte sie das nicht schon zu besseren Historikern, klügeren Diagnostikern oder scharfsinnigeren Beobachter gemacht. Doch allein diese Erfahrung hätte sie in die formale Lage versetzt, Einsichten auszubilden, die von längerwährender Dauer und damit größerer Erklärungskraft zeugen als die Erzählungen der Sieger.

Nicht verallgemeinerbar

Einen Automatismus will Koselleck aber daraus nicht unbedingt ableiten. Schließlich würde das bedeuten, dass die bessere Geschichtsschreibung immer von den Opfern und Verlierern der Geschichte stamme. Doch das ist, wie man weiß, mitnichten der Fall. Das Gegenbeispiel schlechthin, den politischen Mainstream der deutschen Geschichtsschreibung post WK I, nennt der Historiker sogleich selbst.

Die Behauptung, dass die Niederlage von 1918 keinesfalls die Richtigkeit der Ideen von 1914, mithin die Überlegenheit der deutschen Kultur und Nation, in Frage gestellt hätte, hat bekanntlich den Starrsinn und die Engstirnigkeit der deutschen Eliten eher gefördert als vermindert. Statt die Niederlage genauer zu analysieren und Konsequenzen daraus zu ziehen, setzte man auf billige Ausreden wie den "Dolchstoß", den die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften gegen das Reich geführt hätten.

Auf diese Weise sind den deutschen Professoren dann jene Einsichten in die tieferliegenden "Gründe ihrer Niederlage" verwehrt worden, die dann jenen Revanchismus gefördert und herausgefordert haben, den das "Versailler-Diktat" letztendlich noch verstärkt hat.

Nicht ganz neu

Gleichwohl sind Behauptung und Erkenntnis, die Koselleck vor über einem Vierteljahrhundert zur Diskussion gestellt hat und die eine "Zeitschrift", die nach der "veränderlichen Natur von Ideen" fragt, in neuem Lichte wieder aufgreift, nicht gänzlich neu.

Schon Walter Benjamin wollte den Besiegten seines geschichtspolitischen Schattendaseins berauben und ihn historisch aufwerten. Im Loser sah er eine produktiv intellektuelle Gestalt und Chance, die Historie der Sieger mal ordentlich gegen den Strich zu bürsten.

Und auch Carl Schmitt, der eine Zeitlang zu den Lehrern und Förderern Kosellecks gehört hatte und in gewisser Weise Ahnherr der "Kultur der Niederlage" ist, hatte sich post WK II, und zwar während seiner kurzzeitigen US-Gefangenschaft, seinerseits auf Alexis de Tocqueville berufen und gefordert, die Geschichte aus der Sicht der Besiegten zu schreiben.

Kontroversen neu aufgelegt

Ganz ohne Pikanterie ist sowohl die Identifikation mit den Siegern als auch die neu entflammte Loser-Rhetorik freilich auch wieder nicht. Die Geburt des Euro, die Währungsunion und das rasche Schlüpfen der Bundesrepublik unter das europäische Haus ließen sich in diesem Sinne neu deuten.

Und auch die Frage, ob der 8. Mai 1945 für Deutschland ein Tag der Befreiung oder der Tag des totalen Zusammenbruchs gewesen ist, könnte plötzlich wieder in einem neuen Licht erscheinen und zu weiteren kontroversen Diskussionen Anreiz geben. Zumal die Frage Christian Meiers in Raum steht, ob Hitler-Deutschland überhaupt hätte siegen dürfen, wenn es denn hätte siegen können.

Aufstieg durch Identifikation

Fakt ist aber auch, dass die Niederlage die besiegten Deutschen zu einer existentiellen Reflexion über ihr Mittun zwang. Sie mussten sich erst vergegenwärtigen und sich dann auch klar machen, wie es zu Krieg, Rassismus und Faschismus gekommen war. Daraus zogen sie bekanntlich dann jenen historischen Nutzen, den Koselleck postuliert.

So wundert es auch nicht, dass diese politische Einsicht, die zunächst in der widerspruchsfreien Identifikation der unterlegenen Deutschen mit den alliierten Siegern gründete (Stichwort: Re-Education) im Laufe der Jahre dann jenen Erkenntnisgewinn brachte, der den der Sieger (Stichwort: England, Frankreich) überstieg und schließlich das Land zu dem machte, was es heute ist, nämlich die bestimmte Macht im Herzen Europas zu sein.

Harte Alternative

Allein diese Fragen und Themengebiete zeigen, dass sich das Loser-Theorem für An- und Einsichten jeglicher Art ebenso gebrauchen wie für die Verbreitung kulturkritischer Gemeinplätze missbrauchen lässt. Hinzu kommt, dass es reichlich Ansätze und Verstecke für Ressentiments gegen die Sieger bietet.

Die Geschichte als Erlebnis- oder "Geschehniseinheit" stiftet zwar zahlreiche gemeinsame Erfahrungen, dennoch bleibt laut Koselleck "die Unterscheidung nach Siegern und Besiegten eine harte Alternative, die die Bewusstseinsleistung und die Arbeit des Bewusstseins verschieden kanalisiert."

Gewiss besitzt "der Besiegte" hinreichend politisches Potential. Im Körper des Siegers sitzt und wirkt er bisweilen wie ein Stachel oder Fremdkörper. Vor allem dann, wenn er ihn an die Ausweitung der Kampfzonen, an blutige Schlachten und existentielle Lebens- und Schicksalslagen erinnert.

Zur heroischen Figur der Erkenntnis taugt er dennoch nicht. Dafür ist die Figur des Losers zu ambivalent. Weder lässt er sich sozialromantisch verklären noch politromantisch aufladen oder gar gegen notorische Besserwisser, die hinterher immer alles besser wissen, ins Feld führen.

Die Biografie Carl Schmitts liefert dafür das beste Beispiel. In einem zweiten, noch nicht publizierten "Glossarium" schreibt der umstrittene Staatsrechtler nach seiner Inhaftierung: "Der Gescheiterte ist der Gescheitere." Er sei, will er uns wohl in trotziger Haltung sagen, mit seinen Vorstellungen zwar gescheitert, aber nicht zugleich auch der Dümmere.

Schmollend im Exil

Aus dieser Erkenntnis habe Schmitt, so der Münchner Historiker Christian Meier im Gespräch mit Stephan Schlak ( Vom Nutzen der Niederlage für den Historiker), allerdings sehr wenig gemacht. Statt sich der Gründe seines intellektuellen Scheiterns zu vergewissern und daraus Konsequenzen für sein späteres Werk zu ziehen, habe er sich als erkenntnisresistent erwiesen.

Selbst der tiefe Fall vom "Kronjuristen" zum "Ex Captivitate Salus" hat ihn intellektuell nicht scharfsinniger gemacht und schärfer sehen lassen. Vielmehr hat er sich in Selbstgerechtigkeit geflüchtet, sich schmollend nach Plettenberg ins sauerländische Exil zurückgezogen und von dort aus postalisch von einen vermeintlich höheren Beobachterstandpunkt aus seine Ressentiments gegen die Sieger weiter gehegt und gepflegt.

Im Fall Schmitts mag das durchaus so sein. Nichtsdestotrotz gilt das nicht in jedem Fall. Spätestens seit Nietzsche wissen wir, dass Ressentiments den Beobachter nicht blind, sondern auch sehend machen können.

Schubumkehr

Vom FC Bayern ist dagegen Ähnliches kaum zu erwarten. Zumal es sich um Profisport und nicht um Geschichtspolitik oder Politische Romantik handelt. Die "Abteilung Attacke", die Uli Hoeneß wie kein andere verkörpert, hat nach den Enttäuschungen der letzten Saison mit drei zweiten Plätzen sofort wieder auf Angriff umgeschaltet.

Weil an der Säbener Straße die Worte eines Carl Philipp Gottfried von Clausewitz, wonach "jede Verteidigung nach Kräften zum Angriff übergehen [muss], sobald sie die Vorteile der Verteidigung genossen hat", dankbare Abnehmer finden, hat der Verein den vor Ehrgeiz (ver)brennenden Matthias Sammer als Sportdirektor verpflichtet, um seinen bisweilen etwas launischen Kickern die Flausen auszutreiben.

Ob die diesjährigen Niederlagen gegen den BVB und den FC Chelsea auch wirklich "das Unterpfand des kommenden Sieges" sein werden, wie Koselleck das dem Loser ins Stammbuch schreibt, und dann auch zu jener Schubumkehr führen wird wie damals vor elf Jahren, wird man sehen. Gewiss ist das nicht. Ebensowenig wie gewiss ist, dass Niederlagen stark und stärker machen. Nicht zufällig galt im Boxsport lange Zeit jene Weisheit für fast unumstößlich: "They'll never come back".