Sühne statt Strafe?

Die brutale Gewalttat auf einem Münchner S-Bahnhof wirft eine ganze Reihe neuer Fragen auf.

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Der gemeine Angriff auf einen Geschäftsmann vom Samstag letzter Woche durch zwei Heranwachsende auf dem S-Bahnhof München-Solln lässt die Öffentlichkeit nicht zur Ruhe kommen. Nicht nur, weil hier ein Mensch auf brutale und menschenverachtende Art und Weise zu Tode getreten wurde, die Obduktion ergab an die 22 Hiebe und Fußtritte, die auf den Mann einhagelten. Sondern auch, und vor allem, weil der Mann sich schützend vor eine Gruppe von Kindern gestellt hat und nur wegen seines beherzten Eintretens sein Leben lassen musste, obwohl mehr als zwei Dutzend Augen die Schandtat beobachtet oder zumindest bemerkt haben müssen.

Kategorie anderer Art

Bereits am Tag danach wiederholte sich das beliebte Ritual von Reflex und Gegenreflex, die man von Politikern und Meinungsmachern, von Psychologen und Richtern aus vergangenen, ähnlich gearteten Attacken blindwütiger Gewalt her kennt. Verlangten die einen die Verschärfung des Jugendrechts, die Ausweitung der Videoüberwachung und/oder die Erhöhung des Sicherheitspersonals, hielten die anderen den Strafkatalog des Jugendstrafrechts für ausreichend und argumentierten, dass weder das Anbringen von Überwachungsanlagen noch die Androhung höherer Strafen jugendliche Täter abschrecken und keine dieser Maßnahmen Taten solcher Art verhindern helfen könne.

Letzteres ist insofern richtig, als auch das Drohen mit drakonischen Strafen wie etwa dem öffentlichen Federn, Rädern oder Vierteilen von Delinquenten im Mittelalter das Begehen von Raub, Mord oder Totschlag nicht verhindern konnte. Als am gleichen Tag auf der Münchner Pressekonferenz die bayerische Justizministerin von der CSU aber wieder mal eine Erhöhung der Mindeststrafe für Jugendliche forderte und ein Journalist unter dem Gelächter der Kollegen fragte, ob sie wirklich glaube, dass die Aussicht auf eine höhere Strafe den Gewaltausbruch eines Jugendlichen verhindere, konfrontierte Beate Merk die journalistische Fragerunde mit der überraschenden Bemerkung, es gehe hier möglicherweise gar nicht um Strafe und Vergeltung, sondern vielleicht um "Sühne".

Göttliche Rechtsordnung

Eigentlich hätte diese Wortwahl die Medien und ihre Vertreter aufmerken lassen und elektrisieren müssen. Denn mit dem Begriff der „Sühne“ kommt eine Kategorie ins Spiel, die in der bürgerlichen Strafrechtsordnung bislang keinen Ort hat. Sühne ist ein Begriff „theologischen Ursprungs“. Sie entstammt einer alttestamentarischen Rechtsordnung und reicht bis in die griechische Mythologie zurück. Sie taucht immer dann auf, wenn Gewalt sich nicht als Mittel, sondern, wie Walter Benjamin schreibt, sich „vielmehr irgendwie anders“ verhält. Über eine solche „schicksalhafte Kraft der Gewalt“, die aus heiterem Himmel geschieht, befindet ein Gott. Sie ist für Menschen im Allgemeinen nicht zu erkennen.

Walter Benjamin hat, um das zu zeigen, in seinem Essay "Zur Kritik der Gewalt" als Beispiel die Niobe-Sage angeführt. Niobes Hochmut gegenüber den Göttern Apollon und Artemis fordert das Schicksal heraus. Das Verhängnis, das sie damit heraufbeschwört, trifft aber nicht sie, sondern ihre Kinder. Sie kommen zu Tode, während sie am Leben bleiben muss. Nicht nur, um ewig an dieser Schuld zu tragen, sondern auch, um eine deutliche Grenze zwischen Menschen und Götter zu setzen.

Im Alten Testament wiederum bekommt Kain zu spüren, was es heißt, gegen die göttliche Rechtsordnung zu verstoßen. Über sie wacht längst nur noch ein einziger, allmächtiger Gott. Zur Strafe für den Mord an seinen Bruder schreibt Gott ihm das Zeichen des Sünders auf die Stirn. Unauslöschlich gräbt es sich dort ein und weist ihn fortan als das aus, was er ist, nämlich ein Brudermörder. Fortan weiß jeder, der Kain begegnet, wessen er sich schuldig gemacht hat. Und diese Schuld, das macht der Makel auf der Stirn deutlich, kann weder abgetragen noch abgearbeitet werden. Sühne zu leisten, heißt für den Brudermörder, sie sein Leben lang sichtbar vor sich hertragen zu müssen.

In allen diesen Fällen geht es nicht um Rechtsprechung, sondern um „Sühne“. „Entsühnen“ kann, wie es bei Benjamin heißt, kein positives Recht, nur ein Gott. „Ist die mythische Gewalt (ergo: das positive Recht) rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet jene grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.“

Vergleich und Abgleich

Mit derartigen Formen „unmittelbarer Gewalt“, die Opfer fordert oder Opfer nimmt, hat die Moderne gebrochen. Sie hat sie, zweifellos mit guten Gründen, in Rechtsförmigkeit gekleidet. Auch der brutalste und hemmungsloseste Schläger, Räuber oder Mörder genießt Rechtsschutz. Die Rolle des entsühnenden Gott übernimmt dabei ein von Rechtswegen bestimmter Richter, der nach Maßgabe einer bürgerlichen Rechtsordnung eine Strafe ausspricht, um die Schuld, die jemand auf sich geladen hat, zu begleichen.

Wie die Wortwahl schon zeigt, geht es im bürgerlichen Recht fortan nicht mehr um die Besänftigung oder gar Versöhnung mit einem zürnenden Gott, sondern um einen Ab- und Ausgleich. In Vergleich gesetzt wird eine Tat mit einem Strafenkatalog. Ziel der Strafe ist es, den strafrechtlich Belangten nach einer vom Richter zu bestimmenden Dauer der Strafe wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Nicht Sühne, sondern Kompensation, Erziehung und Besserung des Delinquenten ist das Ziel.

Die blindwütige Gewalttat am Samstagnachmittag hat gezeigt, dass eine bürgerliche Rechtsordnung, die ihre Prinzipien am ökonomischen Ausgleich von Schuldner und Gläubiger findet, rasch an ihre Grenzen stößt. Angesichts der Schwere und Unfassbarkeit des Angriffs, und das hat die bayerische Justizministerin damit wohl zum Ausdruck bringen wollen, gibt es kein rechtliches Maß dafür. "Das Böse in der S-Bahn" entzieht sich der Sphäre des Rechenhaften und des Kalkulierbaren, der das Recht angehört. Sind zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre Zuchthaus dafür ausreichend? Was passiert nach dem Verbüßen der Tat mit dem oder den Tätern? Warum "sperren wir dieses Pack nicht einfach weg?" Ist hinterher alles wieder gut, weil hinreichend „gesühnt“ oder „entsühnt“ wurde? Und was ist eigentlich mit den Hinterbliebenen des Opfers? Werden sie den „Einbruch des Realen“ (J. Lacan) jemals verkraften? Sind sie möglicherweise die zweiten Opfer dieser sinnlosen Aggression? Sind sie, auf eine verquere Art und Weise gar, die Niobes der Gegenwart?

Entsühnende Kraft

Es waren Walter Benjamin und Carl Schmitt, die, als sie nach der Herkunft von Recht, Gesetz und Gerechtigkeit gefragt haben, die Grenzen des Rechtssystems ausgelotet und sich seinem unauflösbaren und unerklärlichen Rest gestellt haben, den die Psychologen „das Unbewusste“, die Theologen „das Böse“ und die Philosophen „unmittelbare Gewalt“ nennen. „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre“, hielt der Staatsrechtslehrer der bürgerlichen Ordnung einst vor, „sind säkularisierte theologische Begriffe.“ Sören Kierkegaard legte ein Jahrhundert davor dar, welche Intensitäten „die Ausnahme“ entwickeln kann. „Sie legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst“, schrieb der protestantische Theologe, den Carl Schmitt breit und zustimmend zitierte. Nur wenn man „die Ausnahme“ erklären kann, kann man das auch mit dem Allgemeinen.

Gewiss wird eine solche Revitalisierung des „Sühnegedankens“ niemanden von einer Gewalttat abhalten. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Darum geht es auch gar nicht. Vielmehr geht es möglicherweise darum, auf die „unmittelbare Gewalt“ von derartigem Ausmaß, wie sie am Samstag, den 12. September um 16.05 Uhr, zwei Heranwachsende vor den Augen von einem Dutzend Zeugen realisiert haben, angemessen, und das heißt in diesem Fall, auch mit „außergewöhnlichen“ Maßnahmen reagieren zu können, über die zu reden sein müsste.

Da müssen dann auch „Entschuldungsfragen“, wie die kriminelle Karriere der Täter, die Verrohung einer bestimmten Clique von Jugendlichen oder die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit, mal hinten anstehen können. Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was die rohe, gemeine und niederträchtige Attacke verniedlichen, erklären oder gar rechtfertigen könnte. „Das Purgatorium“, schrieb einst Chateaubriand in blumigen Worten, „übertrifft an Poesie den Himmel und die Hölle.“ Sie stellt, wie er meinte, „eine Zukunft dar, die diesen beiden fehlt“.