McLuhan: ein konservativer alter Kauz

Auch 30 Jahre nach seinem Tod gilt Marshall McLuhan medial immer noch als hip, cool und groovy. Eine ungewöhnliche Biografie von Douglas Coupland zeigt ihn aber auch von einer ganz anderen Seite

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Es muss noch früh am Morgen gewesen sein. Wir hatten wieder mal Sprachunterricht, Englisch oder Französisch, als mich ein heftiger Hustenanfall erfasste und ich plötzlich und unerwartet einen Golfball großen Auswurf in meiner rechten Hand hielt. Ich war damals siebzehn oder so und gerade dabei, mich, wie viele meiner Freunde auch, zu einem starken Raucher zu entwickeln, der wegen des günstigen Preises vorwiegend Marlboro, Winston oder Pall Mall aus US-amerikanischen Beständen paffte.

Klumpentheorie

An diesen unschönen Vorfall sah ich mich unversehens zurückerinnert, als ich auf die Seite 61 mit der Fußnote 9 in Couplands Biografie über Marshall McLuhan stieß. Dort berichtet der Autor ausführlich darüber, dass auch er, nachdem er gerade ein Monat lang mit dem Rauchen aufgehört hatte und nach der Arbeit durch einen Schneesturm lief, auf einmal kräftig zu niesen anfing und danach einen etwa Weintrauben großen, blutigen Klumpen Gewebe in der Hand hatte.

Während ich damals nur peinlich berührt den Auswurf eilig und verstohlen beseitigte und noch einige Jahre ins Land gingen, bis in mir auch die Einsicht wuchs, das Rauchen endgültig sein zu lassen, hatte der Vorfall für Douglas Coupland unmittelbare gesundheitliche Folgen. Fortan war sein Gehör nämlich empfindlich gestört. Auf Lärmquellen reagiert er seitdem nicht nur höchst sensibel. Auch Geräusche kann er weder orten noch richtig verstehen. Was dazu geführt hat, dass er Rockkonzerte meiden muss, zum Durchschlafen Ohrstöpsel braucht und am Schreibtisch nur nachts arbeiten kann, wenn draußen endlich Ruhe einkehrt.

Auch McLuhan hatte man einst in den Sechzigern einen Walnuss großen Hirntumor aus dem Kopf entfernt. Nach dem "süßen Einlauf in sein Gehirn", wie es bei Frank Zappa despektierlich heißt, war für den kanadischen Literaturprofessor danach nichts mehr wie es mal war. Sein Gehirn spielte fortan "verrückt", wie Coupland das nennt und zu wissen glaubt. Genau wie sein kanadischer Biograf reagierte auch McLuhan von da an "überempfindlich auf laute, plötzliche und unerwünschte Geräusche". Weswegen in Coupland, als er davon hörte, der Wunsch hochkam, über ihn "eine Biografie schreiben" zu wollen.

Ob die Entfernung dieses "Klumpens" aus seinem Hirn auch der Grund war, warum McLuhan anderen Leuten nie gern zuhörte, lieber selbst gern und ausdauernd daherquasselte und sich dadurch in den Mittelpunkt rückte, ist uns nicht überliefert. Auch nicht von seinem Biografen Philipp Marchand. Und ob seine mitunter sehr bewusst und latent zur Schau getragene Missachtung von Zuhörern oder Gesprächspartnern etwas mit dem "Asperger-Syndrom" zu tun hatte, unter dem er angeblich litt, wissen wir ebenso nicht.

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Zerstreuter Professor

Coupland scheint das aber zu unterstellen und uns irgendwie einflüstern zu wollen. Zumal er sich nicht davor scheut, McLuhans "Psychopathologien" und "Übersprungshandlungen" mit seiner aus vielen Flickwerken und Bruchstücken zusammen geschusterten Medien- und Kulturtheorie in Zusammenhang zu bringen.

Unstrittig ist dagegen, dass McLuhan auf Rituale stand. Er mochte es auch nicht, wenn jemand ihn anfasste, ihn berührte oder gar anstieß. War dies der Fall, reagierte darauf sofort allergisch und zog sich in sein Schneckenhäuschen zurück; unstrittig ist auch, dass er gern mit Worten spielte, zu Studenten und Zuhörern in Rätseln und ganzen Absätzen sprach und sie auf diese Weise provozierte oder gar zur Weißglut trieb; und unstrittig ist auch, dass McLuhan den "Inbegriff eines zerstreuten Professors" verkörperte. Wie Vilém Flusser, der sich gern von seiner Frau Edith überall hinchauffieren ließ, wollte und konnte er nicht Auto fahren und fand offenbar nur im "heillosen Durcheinander" seine Erfüllung.

Was Couplands Biografie allerdings von anderen ab- und damit heraushebt, ist die Tatsache, dass er McLuhan nicht bloß huldigt und ihm verfällt, wie andere Adepten zuvor. Aber auch, dass er auf diese Sonderlichkeiten Wert legt und nicht einfach nur McLuhans Theorie-, Sprach- und Sinnkosmos nacherzählt, der ihn einst zum Popstar und Scharlatan und auch zum genialen Vordenker der postmodernen Massen- und Konsumkultur werden ließ.

Sonderlicher Typ

Die Begrifflichkeiten und Theoriestücke, die McLuhan prägte und die heute zum Rüstzeug jedes angehenden Kulturwissenschaftlers gehören: Global Village, die Form bestimmt den Inhalt oder die Unterscheidung von heißen und kalten Medien etwa, werden eher beiläufig, entspannt und salopp erwähnt und erklärt. Was Coupland mehr interessiert, sind McLuhans soziales und familiäres Umfeld väterlicher- und mütterlicherseits, das er genau auslotet, seine Ansichten, Neigungen und Interessen, aber auch all die kauzigen Muffeligkeiten, die sich seiner Meinung nach auch in seiner Art zu denken und zu formulieren verewigt haben.

Für Coupland war Marshall nicht bloß ein außergewöhnlicher Typ, er war auch ganz anders als alle anderen. So gelangte etwa frisches Blut in sein Gehirn über zwei Arterien, eine Besonderheit, die ansonsten nur noch im Tierreich und zwar bei Katzen vorkommt. Zudem schlug er jedes Buch, das ihm in die Hände fiel, immer auf Seite 69 auf. Gefiel ihm das, las er es, missfiel ihm das, was er da las, legte er es ungelesen zur Seite. Schließlich war er der Abkömmling einer Familie, deren Mitglieder häufig Opfer von Schlaganfällen wurden, ein Umstand, der ihm selbst mehrmals zuteil wurde, bei Vorlesungen, Vorträgen oder auch in Seminaren. Mitunter setzte dann kurzzeitig sein Bewusstsein aus, ehe es nach ein paar Minuten wieder einsetzte und er weiter redete.

In gewisser Weise erinnert Couplands Buch an den bekennenden "Opiumesser" Thomas de Quincey, das der vor zweihundert Jahren über "die letzten Tage des Immanuel Kant" verfasst hat und das der Matthes & Seitz Verlag vor mehr als einem Vierteljahrhundert wiederaufgelegt hatte. Auch da nehmen Kants häusliche Gewohnheiten, seine Schrulligkeit und persönlichen Spleens, das sture und strikte Zeitschema von Arbeitsrhythmen und Spaziergängen durch Königsberg, einen breiten Raum ein und setzen sie latent in enge Beziehung zur rigorosen Strenge seiner Begriffe und Gedanken, die seine Vernunftkritik und den kategorischen Imperativ prägen und entfalten.

Flippig und sprunghaft

Coupland ist überzeugt, dass McLuhans flippiger, sprunghaft und in Bruchstücken vorgetragener Stil, den später die Werbung genial verfeinern wird, genuiner Ausdruck seiner Lebensweise war, die er geführt hat. Nicht zufällig beschäftigte sich sein erstes großes Hauptwerk, "The Mechanical Bride" von 1951, mit der Welt der Reklame. Deutlich und visuell für den Leser greifbar wird dieses Flickwerk, das sich möglicherweise auch in seinem Gehirn abspielte, in zwei soeben neu aufgelegten Bändchen, die er, in den Jahren 1967/8, als er den Ruhmestempel erobert und zum allzeit hofierten Popstar der Medienwelt avanciert war, zusammen mit dem bekannten Grafiker Quentin Fiore publizierte.

Beide, etwa zweihundert Seiten umfassenden Bücher, "Das Medium ist die Massage" sowie "Krieg und Frieden im Globalen Dorf", stellen interessante Spiele mit Lettern, Bildern, Kunstwerken und Typografien dar. Mal kippen die Buchstaben einfach weg, mal stehen große und kleine nebeneinander oder sie stehen auf dem Kopf, mal spiegeln sie sich und wechseln zwischen Normal- und Fettdruck munter hin und her. Garniert werden sie oftmals mit Zitaten aus oder Hinweisen auf McLuhans Lieblingsbuch, "Finnegan's Wake" von James Joyce.

Im Grunde handelt es sich um Foto-Montagen, um Bilder- oder Fernsehbücher, die mit der Buchform experimentieren und irgendwie die Ablösung der "Gutenberg-Galaxis" durch ein "elektronisches Zeitalter" reflektieren. Angereichert oder ergänzt werden sie mit Kommentaren, Gedankenfetzen und Stellungnahmen, die McLuhan zu Ereignissen der Zeit, einstreut, etwa zu Werbung und Architektur, Blitz- und Fernsehkriegen (damals vor allem der Vietnamkrieg). All das präsentiert eine bereits durch Massenmedien geschrumpfte Welt, an der wir alle unmittelbar, gleichzeitig und in Echtzeit im Wohnzimmer sitzend teilnehmen.

Gleichwohl erhebt das derart Zusammengefügte aber auch einen avantgardistischen Anspruch. Der Beobachter soll nämlich nicht bloß dazu gezwungen werden, seine Wahrnehmung zu ändern und die lineare Struktur seiner Lesegewohnheiten über Bord zu werfen, er soll dem Dargestellten beim Betrachten der Lettern und Drucke auch neue Formen und Bilder hinzufügen. Auf raffinierte Art und in sehr subtiler Weise wird darin mit Möglichkeiten und Zufällen gespielt, die Bildersprachen hergeben und die der französische Dekonstruktivismus etwa zur gleichen Zeit schon, aber nur mit Lettern propagiert.

Störrisch und erzkonservativ

So sehr sich McLuhan auch für den medientechnologischen Wandel interessierte, ihn in seinen Schriften auch vorwegnahm, so sehr verachtete er die moderne Medienwelt und ihre Technik auch. Im Grunde war er ein Antimodernist und Reaktionär. Mit sechsundzwanzig konvertierte er zum Katholizismus. Bis zum Ende seines Lebens im Jahre 1980 war er, was man heute einen religiösen Fundamentalisten nennen würde. Fast täglich ging er in die Kirche, betete den Rosenkranz und glaubte felsenfest an Himmel und Hölle, an die Erbsünde und das Jüngste Gericht.

Weder konnte er sich für die Sache der Frauen erwärmen, sie hielt er für "von Natur aus fügsam und unkritisch". Noch war er in der Lage, über Sexualität mehr als ein Wort zu verlieren. Obwohl er neben Andy Warhol als einer ihrer Protagonisten verehrt wurde und mit Vorträgen kurzzeitig horrende Summen in Amerika einstreichen konnte, stand er der Welt des Pop und des Massengeschmacks immer feindlich gegenüber. McLuhan war überzeugt, dass der Pop ebenso wie die Massenmedien die unterschiedlichsten Kulturen vereinheitlichte und sie zu einem Einheitsbrei verramschte.

Kein Technik-Freak

Warum McLuhan bis auf den heutigen Tag als "Medien- und Technik-Guru" wahrgenommen wird, er für einen Apologeten der Hippie- und Gegenkultur gehalten wird und immer noch als "hip, cool und groovy" gehalten wird, bleibt daher rätselhaft. Auch Coupland vermag dieses Geheimnis nicht zu lüften. Gewiss beschrieb er eingehend und ausgiebig die Effekte der modernen Technologien, Medien, die uns umschmeicheln, kneten und massieren ebenso wie jene Hilfsmittel, die unseren Horizont wie unsere Radien in sinnlicher wie körperlicher Hinsicht erweitern, vernetzen und/oder später auch substituieren.

Doch interessiert hat er sich vorwiegend für die Vergangenheit, fürs Mittelalter und die Literatur der Renaissance, auf deren Wiederkehr und Revitalisierung er durch das Fernsehen hoffte. Das mediale Lagerfeuer, das der Bildschirm entfacht und um den sich die Zuseher noch bis in die Achtziger hinein zunehmend versammelten, sollte die Menschen wieder zurück zu ihren Wurzeln bringen. Das Fernsehen sollte Luther, die Herrschaft von Paulus und der Evangelisten und damit die Dominanz von Buch und Schrift brechen, es sollte sie "tribalisieren" und sie, wie das sein katholischer Lehrmeister Walter J. Ong in seinem Hauptwerk "Oralität und Literalität" ausdrückte, wieder ins Paradies einer "oralen Stammesgesellschaft" führen.

Das aber, ist, wie wir längst wissen, ein herber Trugschluss. Sowohl der Ausgang als auch der Eingang dazu bleiben uns für immer versperrt, seitdem wir vom "Baum der Erkenntnis" gegessen haben und sie in Lettern verewigt haben. Es gibt keinen Weg vor oder hinter die Schrift zurück.

Literatur:
  • Douglas Coupland: Marshall McLuhan. Eine Biografie. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Tropen Verlag/Klett Cotta, Stuttgart 2011, 222 S., geb., 18,95 Euro.
  • Marshall McLuhan/Quentin Fiore: Das Medium ist die Massage. Ein Inventar medialer Effekte. Deutsch von Martin Baltes und Rainer Höltschl. Tropen Verlag/Klett Cotta, Stuttgart 2011, 160 S., 12 Euro.
  • Marshall McLuhan/Quentin Fiore: Krieg und Frieden im globalen Dorf. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte, Kadmos Verlag, Berlin 2011, 224 S., 19,90 Euro.
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