In Syrien breiten sich Gesetzlosigkeit und Kriminalität aus

Durch die Kämpfe zwischen Rebellen und regierungstreuen Truppen entsteht zunehmend ein Machtvakuum

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Möglicherweise entscheidet sich die Machtfrage in Syrien nicht durch die Kämpfe zwischen Rebellen und regimetreuen Soldaten und Milizen. Die Kämpfe führen zur Ausbreitung eines Machtvakuums, durch das sich die Gesellschaft mitsamt der Wirtschaft und den daran hängenden Beschäftigungs- und Einkommensverhältnissen auslösen, während die staatlichen Strukturen, die das Alltagsleben und die Ordnung sichern und in Gang halten, zerfallen und sich ein "failed state" herausbildet, der nur noch in Teilen von der Zentralregierung oder von Rebellen kontrolliert wird.

Wie die New York Times berichtet, beginnt sich in den Ruinen, die durch die Bombardierungen in vielen Städten entstanden sind, unter den noch verbliebenen Menschen, die nicht fliehen konnten oder wollten, die Angst vor der Gesetzlosigkeit auszubreiten. Oft sind bereits die Polizeistationen verlassen, die Polizisten untergetaucht oder geflohen, Diebe und Plünderer machen sich breit. Kidnapping wird zu einem florierenden Geschäft für Kriminelle, die schnell Geld erpressen wollen. Die Menschen verbarrikadieren sich in ihren Häusern, um sich vor Einbrechern zu schützen und weil der öffentliche Raum zu gefährlich geworden ist. Sowohl unter den regimetreuen Milizen als auch unter den Rebellen mischen sich Kriminelle. Verwickelt in Kämpfen können weder die Rebellen noch die Truppen für öffentliche Ordnung sorgen, weil sie zu sehr beschäftigt sind, Territorien zu verteidigen oder einzunehmen. Auch auf dem Land kontrollieren nicht nur Regierungstruppen oder mehr und mehr die Rebellen die Straßen, sondern auch bewaffnete Banden, die die Fahrzeuge ausrauben.

Die New York Times vergleicht die Situation in Syrien mit der im Irak nach der Invasion, als sich nach dem Zusammensturz des repressiven Hussein-Regimes Gewalt, Plündereien und Kämpfe zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen trotz der Präsenz der Koalitionstruppen in einer tödlichen Welle ausbreiteten. Zur Bekämpfung von Terrorismus, Aufstand und Kriminalität wurden von den US-Truppen ganze Städte mit einem durchgehenden Wall vom Umland abgesperrt, um die Zu- und Ausgänge zu sichern. In Falludscha wurde nach der Absperrung die Stadt bombardiert und nach und nach eingenommen. US-Strategen hatten in der Zeit die Ausrichtung auf "failed states" auch auf Städte (feral cities) erweitert: Pockets of Darkness).

In Syrien könnte das Chaos, sollte das Assad-Regime weiter an Einfluss verlieren und die Rebellen nicht schnell eine Zentralregierung bilden, noch viel stärker werden. Dazu beitragen könnte auch, dass die vom Assad-Regime seit Jahren bezahlten Shabiba-Milizen offenbar weniger oder kein Geld mehr bekommen, weil das Regime auch finanziell an Grenzen stößt. Die Milizen würden bereits jetzt, so berichten Syrer, selbst Gelder eintreiben und noch mehr zur Gewalt greifen, was wiederum Öl auf das Feuer der Rebellen gießt.

Man wird sehen müssen, wie die Rebellen für Recht und Ordnung in ihren Reihen und in den von ihnen kontrollierten Gebieten sorgen können. Schließlich kommt es auch hier zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung und zu Kriegsverbrechen wie der Exekution oder Folter von Gefangenen. Mittlerweile kontrollieren die Rebellen mit der Ausnahme eines Flughafens einen Korridor, der von der türkischen Grenze bis nach Aleppo reicht. Damit können nicht nur einfacher und schneller Waffen und Nachschub zu den Rebellen in der Stadt gebracht werden, sondern hier wird auch deutlich werden, ob und wie die Rebellen Ordnung herstellen können. In der Nähe der Grenzstadt Azzaz werden die Grenzkontrollen bereits von Rebellen ausgeführt, die das Gebiet "Freies Syrien" nennen. In den Städten bilden sich Strukturen der Verwaltung mit Stadträten und Polizei heraus. Auch eine Gerichtsbarkeit soll bereits in Ansätzen entstehen. So sollen islamische Geistliche auf Grundlage des islamischen Rechts eine Rechtsprechung etablieren, was darauf hinweist, dass nach dem repressiven Regime keineswegs ein Rechtsstaat kommen muss, sondern die Lücke von der Religion ausgefüllt werden könnte.