Der lebenslange Makel der arm Geborenen

Das britische Gremium für nationale Gleichheit ist schockiert über die Ergebnisse einer Untersuchung der Verhältnisse im Königreich, wie es sie noch nie zuvor gab

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Auf 460 Seiten können Briten seit heute nachlesen, was die Spatzen seit der Regierung Thatcher von den Dächern pfeifen: dass sich die Schere zwischen den wohlhabenden und den ärmeren Schichten seit den 1980er Jahren immer weiter geöffnet hat. Der seit länger als einem Jahrzehnt regierenden Labour-Partei stellt der Bericht "An Anatomy of Economic Inequality in the UK" (Zusammenfassung als PDF ) in diesem Zusammenhang ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: Der politischen Vertretung der sozial schlechter Gestellten, so zumindest der klassisch-konstitutive Anspruch der Labour-Partei, ist es nicht gelungen, die Kluft zu verringern. Im Gegenteil: für die Jahre 2007-2008 notiert der Bericht das höchste Maß an Ungleichheit der Einkommen seit den frühen Nachkriegsjahren (anschaulich dargestellt hier).

Die Zahlen, die dem Bericht entnommen werden und in verschiedenen Medien kursieren, stellen sich in eine Reihe ähnlicher Bilder von ungleich verteilten Kuchenstücken, wie man sie seit einigen Jahren serviert bekommt: Der Wohlstand, den die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung ansammeln konnten, beträgt im Vergleich mit den ärmsten 10 Prozent das mehr als 100fache. Diese Rechenaufgabe etwa ist im Guardian zu lesen. Etwas ausführlicher stellt sich der Sachverhalt so dar: Die oberen 10 Prozent konnten bis zu ihrem Pensionsalter - das von 55 bis 64 angesetzt wird - an Besitz und anderen Vermögensbeständen durchschnittlich 2,5 Millionen Euro anhäufen, während es die untersten 10 Prozent gerade mal 9100 Euro schafften. Als typische Vertreter der obersten Schicht werden "higher professionals" genannt, für die unteren der normale gewerbliche Arbeitnehmer. Das für den Bericht verantwortliche National Equality Panel bewertet die Ungleichheiten, die das Projekt - "more ambitious in scope than any other state-of-the-nation wealth assessment project ever undertaken" - in vielen Facetten zutage fördert, "schockierend". Zumal die Unterschiede in Einkommen und Löhnen in Großbritannien im Vergleich mit anderen Industriestaaten hoch ausfallen.

Doch auch innerhalb Großbritannien gibt es markante Unterschiede. 2001 hatte die britische Regierung laut Guardian angekündigt, dass "innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre keiner durch den Ort, an dem er wohnt, schwer wiegenden Nachteilen ausgesetzt sein sollte". Laut Bericht zeigt sich, dass ein Jahrzehnt nach dieser Ankündigung, die durchschnittlichen Stundenlohnunterschiede zwischen den schlechten und guten Standorten in der Größenordnung von 40 Prozent liegen.

Als besonders dramatisch werden die Aussichten der Kinder geschildert, die in arme Verhältnisse hinein geboren werden, angesichts der festgefahrenen sozialen Mobilität hätten benachteiligte Kinder kaum eine Chance ihrem sozialen Schicksal zu entgehen. Berufswahl und Einkommensaussichten, die ein junger Erwachsener habe, hängen zu einem wichtigen Ausmaß von der Herkunft ab. Das ist keine spröde Twitter-Zusammenfassung des Dickenschen Oeuvres aus dem 19ten Jahrhundert, sondern das nüchterne Fazit des National Equality Panel von 2010:

"Das Beweismaterial, das wir gesichtet haben, zeigt, wie weit die Herkunft greift, wenn es darum geht, wie Menschen ihr Leben gestalten; das zieht sich durch alle Lebensphasen, buchstäblich von der Wiege zum Grab. Die Unterschiede im Wohlstand sind im Besonderen damit verbunden, wie die Möglichkeiten aussehen, eine Wohnung in jenen Sprengeln zu bekommen, wo die besten Schulen sind oder ob man sich eine Privatschule leisten kann, die Vorteile, die manche Kinder dadurch haben, bestehen während der schulischen Ausbildung und darüber hinaus. Auch bei der Lebenserwartung zählt das Materielle. Jenseits der 50 korrelieren deutliche Unterschiede der Lebenserwartung mit unterschiedlicher finanzieller Ausstattung, Wohlstand."

13 Prozent der britischen Kinder, so der Bericht, leben derzeit in großer Armut.