Auch in der Wissenschaft findet durch das Internet ein Konzentrationsprozess statt

Nach einer soziologischen Studie zitieren wissenschaftliche Autoren in ihren Artikeln weniger und eher neuere Artikel.

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Wie wirkt es sich auf die wissenschaftliche Arbeit aus, wenn immer mehr wissenschaftliche Artikel online und viele auch kostenlos zugänglich sind, fragte sich der Soziologe James Evans von der University of Chicago. Um die Frage zu klären, untersuchte er, ob sich die Zitierungspraxis verändert hat, weil man ja online einfacher nach Artikeln suchen und sie durchsuchen kann. Dadurch sollte sich eigentlich die Zahl der zitierten Artikel und Zeitschriften erhöhen. Tatsächlich aber werden nicht mehr Artikel in einer breiteren Auswahl an Zeitschriften zitiert, sondern findet überraschenderweise eine stärkere Selektion, also eine Art Konzentrationsprozess statt.

Für seine Studie, die in der aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, hat der Soziologe 34 Millionen Artikel, deren Zitate (1945-2005) und deren Online-Verfügbarkeit (1998-2005) untersucht. Für die Zitate wurde der Zitationsindex von Thompson Scientific verwendet. Dabei fiel auf, dass Artikel in Zeitschriften desto weniger häufig zitiert werden, je mehr Ausgaben der Zeitschrift online veröffentlicht wurden. Mit jedem zusätzlichen Jahr der Online-Verfügbarkeit einer Zeitschrift sollen die Zitate auf einzelne Artikel, nicht auf die Zeitschrift insgesamt, durchschnittlich um 14 Prozent weniger werden. Egal, ob die Zeitschriften frei oder gegen Gebühr online zugänglich sind, fällt durchschnittlich nach weiteren fünf Jahren der Online-Präsenz die Zahl der zitierten Artikel in der Zeitschrift von 600 auf 200. Die Zahl der zitierten Artikel in den einzelnen Wissenschaftsbereichen fällt von 25.000 auf 15.000 und die Zahl der zitierten Wissenschaftszeitschriften von 19 auf 16.

In der Welt der Wissenschaft findet demnach eine ähnliche Selektion nach Prominenz wie im Rest der von der Aufmerksamkeitsökonomie geprägten Gesellschaft statt. Die Zahl der Artikel, die eine hohe Popularität erzielen, werden weniger, obgleich die Gesamtzahl der Artikel ansteigt. Die Wissenschaftler nehmen also aufgrund der Informationsflut oder als Reaktion auf sie weniger wahr, was sich auch daran zeigt, dass ältere Artikel kaum mehr berücksichtigt werden. Das könne dazu führen, warnt Evans, dass auch Artikel mit wichtigen Inhalten in den Archiven verschwinden. Evans führt die beobachteten Veränderungen auf die Online-Suche zurück, die zwar effizienter sei, aber mit dem Verfolgen von Hyperlinks eher auf vorherrschende Trends stößt. Das könne "die Konsensbildung beschleunigen und die Breite der Funde und der darauf aufbauenden Ideen verengen".

Obgleich also eine wesentliche größere Vielfalt möglich wäre, setzt sich eine Art Herdeneffekt durch, Evans ist der Meinung, dass die Suche nach Artikeln in Bibliotheken und Printausgaben das eher verhindert habe. Weil sie ungenauer und fragmentierter war, es beispielsweise keine Deep Links gab, könnte sich ein breiteres Spektrum ergeben haben, was sich in mehr Zitierungen niederschlug. Aber vielleicht ist die Erklärung ja auch andersherum: Weil jeder so leicht auf so viele Artikel zugreifen kann, braucht man sie nicht mehr zu zitieren, sonder beschränkt sich auf das Notwendige. Suchen kann ja jeder selber, die Autoren brauchen hier niemanden mehr an die Hand nehmen oder sich durch Hinweise auf Autoritäten in eine Tradition einreihen.

Jennifer Couzin weist allerdings in einem Kommentar zu Evans Studie darauf hin, dass andere Wissenschaftler zum genauen Gegenteil gekommen sind. Carol Tenopir von der University of Tennessee und Donald King von der University of North Carolina haben Jahre lang Tausende von Wissenschaftlern nach ihren Lektüregewohnheiten befragt. Nach ihren Ergebnissen würden die Wissenschaftler jetzt mehr ältere Artikel und aus einem breiteren Spektrum von Zeitschriften lesen als früher.