Massenprotest gegen schwarz-gelbe Atompolitik

Zwei Tage vor dem Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erlebte die Bundesrepublik einen der größten Anti-AKW-Proteste ihrer Geschichte

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Wie es aussieht, hat die Bundesregierung ein neues Problem. Die Verlängerung der AKW-Laufzeiten, die sie noch in diesem Jahr unter Dach und Fach bringen will, werden wohl nur gegen erheblichen Widerstand durchzusetzen sein. Das machten am heutigen Samstag die Demonstrationen der Anti-AKW-Bewegung deutlich, die an drei Orten nach Angaben der Veranstalter fast 150.000 Menschen auf die Straße brachten.

Rund 6.000 Protestierende kamen zu einer Demonstration am Atommüll-Zwischenlager Ahaus im nordwestlichen Niedersachsen, berichtet das Internet-Portal Wir-Klimaretter.de. An den Uralt-Reaktoren im südhessischen Biblis beteiligten sich rund 20.000 Menschen an einer "Umzingelung", heißt es in einer Pressemitteilung des breiten Bündnisses, das zu der Aktion aufgerufen hatte. Mit dabei neben zahlreichen örtlichen Anti-AKW-Gruppen, den Globalisierungskritikern von ATTAC, den großen Umweltverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund DGB auch die Oppositionsparteien SPD, Die Linke und Bündnis90/Die Grünen. Biblis A sollte nach ursprünglicher Planung bereits abgeschaltet sein. Derzeit läuft der Reaktor auf Sparflamme, um seine gesetzlich zugeteilte Reststrommenge nicht aufzubrauchen, bevor die schwarz-gelbe Koalition die Laufzeiten verlängert hat.

Die größte Aktion fand jedoch ganz im Norden der Republik in Schleswig Holstein und Hamburg statt. Auf der 120 Kilometer langen Strecke zwischen dem AKW Brunsbüttel und Vattenfalls Pannenmeiler Krümmel, der von der Mündung des Nord-Ostsee-Kanals elbaufwärts nach und durch Hamburg führte, versammelten sich nach Angaben der Veranstalter über 120.000 Atomkraftgegner zu einer Menschenkette. Auf verschiedenen Kundgebung entlang der Route sprachen auch führende Oppositionspolitiker, wie der SPD-Vorsitzende und Ex-Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der designierte Ko-Vorsitzende der Linkspartei, Klaus Ernst, und der Grüne Ko-Chef Cem Özdemir. Nicht allen Aktivisten hat das geschmeckt. Die Bäuerliche Notgemeinschaft aus dem niedersächsischen Wendland, die dort seit rund 30 Jahren gegen Zwischenlager, Atommülltransporte und geplantes Endlager im Gorlebener Salzstock kämpft, hatte sich aus grundsätzlichen Erwägungen gegen die Beteiligung von Parteien ausgesprochen. Beteiligt haben sich die Bauern und andere Wendländer dennoch. Bereits Mitte der Woche hatte sich ein Treck auf dem weg nach Krümmel gemacht.

Der Aufruferkreis war ähnlich breit wie in Hessen. Besonders bemerkenswert hier: Auch verschiedene Landesverbände der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di haben sich am Protest beteiligt. Noch vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen, weil ver.dis energiepolitische Positionen von den Beschäftigten der großen Stromkonzerne dominiert wurden. Doch inzwischen hat sich offenbar auch in den oberen Etagen der Gewerkschaften die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Zukunft den erneuerbaren Energieträgern gehört, die heute schon rund 300.000 Arbeitsplätze sichern.

"Das Engagement der vielen Hundert ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und der Zuspruch von engagierten Menschen aus allen Teilen der Bundesrepublik und quer durch alle gesellschaftlichen Milieus waren enorm. Am heutigen Tag der Erneuerbaren Energien und zwei Tage bevor sich die Atom-Katastrophe von Tschernobyl jährt, haben über 120.000 Menschen der Bundesregierung signalisiert: Sie muss ihren Pro-Atom-Kurs korrigieren. Es ist höchste Zeit für die Stilllegung der Atomkraftwerke", sagte der BUND-Atomexperte Thorben Becker, einer der Sprecher der Menschenkette.

Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation "ausgestrahlt" und einer der Sprecher des Trägerkreises: "Wir lassen jetzt nicht mehr locker. Wenn die Bundesregierung an ihrem Atom-Kurs festhält, wird die neue Protest-Bewegung weiter zulegen. Wir mischen uns damit aktiv in die Debatte um ein neues Energiekonzept ein und werden den Druck gegen die rückwärtsgewandte Energiepolitik erhöhen. Für die nächsten Monate erwarten wir viele weitere Aktionen im ganzen Bundesgebiet. Eine weitere bundesweite Großaktion am 2. Oktober ist bereits in Planung. Und auch beim Castor-Transport nach Gorleben im November rechnen wir mit weiter wachsenden Protesten."